Seelentraeume
Gesicht aufblitzen – der Junge lächelte.
Nach zwei Minuten war alles vorbei. Acht Leichen lagen auf dem Boden. Jack schüttelte sich, stürmte dann eine dunkle Straße hinab und verschmolz mit dem Zwielicht. Der Hund rannte ihm nach. Dann setzten sich die Frauen in Bewegung und folgten ihnen.
»Halt!«, brüllte Jason.
Die angeblichen Sklavinnen blieben stehen.
»Antreten! Um eure Gruppenführer! Sofort!«
Die Kriminellen trennten sich und bildeten mit beinah militärischer Disziplin vier Gruppen.
»Gruppe eins, zu den Sklavenunterkünften«, bellte Jason. »Lasst alle Gefangenen frei, legt Feuer und tötet jeden, der es löschen will. Lasst die Sklaven laufen, wohin sie wollen. Folgt ihnen nicht. Gruppe zwei, nehmt euch die Kaserne vor und brennt sie nieder. Tötet so viele ihr könnt. Gruppe drei, ihr kommt mit mir. Ich will diese Geschütze. Und zwar am liebsten gestern. Sobald wir das Fort eingenommen haben, feuern wir zwei grüne Leuchtkugeln ab. Gruppe vier hält hier die Stellung. Schneidet den Hafen von der Stadt ab. Für alle gilt, wenn ihr ein rotes Signal seht, brechen wir ab und verziehen uns. Bei einem blauen Signal schafft ihr eure Ärsche dahin, wo es herkam. Plündern erst auf mein ausdrückliches Kommando. Bevor ich es euch nicht sage, werdet ihr euch nicht die Taschen vollstopfen, sonst ziehe ich euch höchstpersönlich die Hammelbeine lang. Alles klar?«
Laut johlend taten die Kriminellen ihre Zustimmung kund.
»Also los!« Jason zog ein großes Schwert unter seinem Mantel hervor. »Viel Glück, Alter. Versuch nicht, mir in die Quere zu kommen.«
Dann schritt er mit wehender Mönchskutte über die Landungsbrücke.
Die Kriminellen zerstreuten sich.
Richard streckte Charlotte einen zerlumpten grauen Umhang hin. »Ich bin verkleidet, Sie aber nicht. Also könnte Sie jemand erkennen.«
Sehr unwahrscheinlich, andererseits musste sie das Schicksal nicht herausfordern. Sie legte das Kleidungsstück an, verbarg ihr Gesicht unter der weiten Kapuze und ordnete ihren Erste-Hilfe-Beutel in den Falten des Umhangs.
Richard zückte sein Schwert. Die leicht gebogene lange, schlanke Klinge reflektierte das Licht der Laternen.
»Jetzt sind wir dran«, sagte Richard. »Wir müssen den Buchhalter finden. Weichen Sie nicht von meiner Seite.«
Richard marschierte den Landungssteg hinunter, wobei er darauf achtete, dass Charlotte ihm dicht auf den Fersen blieb. Das Broken mochte ihm für immer verwehrt sein, nicht aber seine Bücher, und er hatte sich darin genauestens über die dortigen Militärtraditionen informiert. Als Marine war Jason in der Kunst des Kleinkriegs geübt. Marines wie er kämpften in sogenannten asymmetrischen Kriegen, in denen man es eher darauf anlegte, die Schwächen des Gegners auszunutzen, als dessen Streitmacht im Ganzen zu vernichten. Jason würde sich vermutlich an diese Vorlage halten: Er würde brutale chirurgische Schnitte in die Lebensadern der Insel ausführen, die Stadt in ein heilloses Durcheinander stürzen, den Feind demoralisieren, die Nachrichtenwege kappen und schließlich den bereits gebrochenen Widerstand vollends unterbinden. Dabei würde er rücksichtslos und absolut unaufhaltsam vorgehen, trotzdem konnte er unmöglich die gesamte Insel blockieren.
Also mussten sie sich beeilen und verhindern, dass der Buchhalter etwas bemerkte und sich absetzte. Sie
benötigten
seine Informationen.
Richard wandte sich nach links und eilte rasch übers Kopfsteinpflaster. Er wäre lieber gerannt, doch Charlotte war seit der Vernichtung der Schiffsbesatzung kalkweiß. Er wollte sie daher nicht drängen.
Was sie der Mannschaft der
Intrepid Drayton
angetan hatte, erschütterte ihn bis ins Mark. Ihre Magie war auf furchtbare Weise schön, und als sie so im Auge ihres stummen Orkans stand, hatte ihn eine Art außerweltlicher Ehrfurcht ergriffen, als sei er Teil eines mystischen Ereignisses, das man nicht erklären, sondern bloß erleben konnte. Furcht mischte sich mit sinnverwirrend heiterer Gelassenheit, Furcht, wie er sie manchmal empfand, wenn er allein durch die Wälder von Adrianglia wanderte oder in die geballten Sturmwolken am rauen Himmel über dem Ozean blickte. Er hatte etwas erlebt, das die Grenze seines täglichen Lebens überstieg und das ihn gleichermaßen beunruhigte und anzog.
Jason hatte recht, wenn er Charlotte den Silbernen Tod nannte. Der Name passte. In ihm vereinten sich Schrecken und Schönheit. Doch der Name gehörte auch zu einer lebendigen, atmenden
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