Seelentraeume
Der Wind verwehte den Staub, der mal seine oberste Hautschicht gewesen war. Die winzigen Partikel verfingen sich in seinen Wimpern. Schließlich seufzte er und brach schlaff zusammen.
Richard drehte sich um. Noch immer schützte er sie und warf einen Blick über die Schulter. Die Seeleute fielen stumm und schlaff einer nach dem anderen. Als sie reglos auf Deck sanken, stieg eine Staubwolke auf.
Es waren schlechte Menschen, die den Tod verdienten. Trotzdem fühlte sie eine niederschmetternde Traurigkeit, als sie starben. Charlotte verdrängte dieses Gefühl und begrub es tief unter den Schichten ihrer Wut und Entschlossenheit. Für Selbstmitleid würde sie später noch Zeit haben.
Richard machte ein äußerst seltsames Gesicht. Weder schockiert, noch ängstlich. Eine sonderbare Kombination aus Ehrfurcht und Erstaunen, als wolle er seinen Augen nicht trauen.
Am anderen Ende des Schiffs fuhr Jason Parris herum und riss die Augen auf, als die Seeleute um ihn herum starben wie Luftballons, aus denen man die Luft herausließ. Heulend hob der Hund die Schnauze zum Mond, sein einsames Jaulen schwebte über den Wellen wie ein Trauergesang.
Über ihnen ertönten leise Schläge. Mit staubbedecktem Gesicht stolperte ein Mann vom Oberdeck. Richard stürzte sich auf ihn, versuchte den Körper aufzufangen, damit er keinen Lärm schlug. Doch ein Windstoß durchkreuzte sein Vorhaben – außerhalb seiner Reichweite brach der Mann in einer Partikelwolke zusammen. Der Staub glitt harmlos von Richards Haut und wurde vom Winde verweht.
Er wandte sich Charlotte zu. »Was war das?«
»Weiße Lepra«, antwortete sie. Eine furchtbare Krankheit. Sie hatte sie früher bekämpft, kannte ihre Tricks und Kniffe, die sie mithilfe ihrer Magie gerade so sehr verändert hatte, dass sie ihr nun als stummer Meuchelmörder diente. Er würde es sich zweimal überlegen, ob er sich von ihr anfassen lassen wollte. Bei dem Gedanken zog sich etwas in ihr zusammen.
»Jack«, sagte Richard mit gesenkter Stimme. »Sag ihnen, dass der Kahn uns gehört.«
»Er kann Sie nicht hören«, teilte sie ihm mit.
»Jack hat gute Ohren«, rief Richard ihr ins Gedächtnis.
Und tatsächlich, schon strömten Jasons Leute aus dem Frachtraum, verteilten sich über das Deck und nahmen die Positionen ein, die zuvor die Seeleute besetzt hatten. Die Leichen wurden kurzerhand über Bord befördert. Die Toten zerfielen im Wind zu Staub.
Jemand keuchte. In einigen Gesichtern sah Charlotte Panik.
»Bedankt euch beim Silbernen Tod für dieses hübsche Schiffchen«, rief Jason. »Und hört auf zu ächzen. Wir müssen den Pott erst noch in den Hafen bringen.«
Es gab kein Entkommen. Ab jetzt war ihr zweiter Name Tod.
George und Jack lösten sich von den anderen.
»Ich will, dass ihr auf euren Vater aufpasst«, sagte Richard. »Er muss uns noch das eine oder andere verraten. Sagt es mir lieber gleich, wenn ihr damit ein Problem habt.«
»Das übernehme ich«, sagte George. »Jack braucht noch ein paar Minuten zum Luftholen.«
»Ich verlasse mich auf dich, George. Noch eine Chance bekommst du nicht. Wenn ich zurückkomme und er ist hinüber, sind wir zwei miteinander fertig. Tu deinem Vater also besser nichts an.«
Der Junge langte in seinen Nacken und zog eine lange, schlanke Klinge aus dem Kragen. »Alles klar. Ich werde dafür sorgen, dass er kerngesund bleibt.«
Richard trommelte gegen die Kajütentür. »Was gibt’s?«, rief Drayton.
»Es gibt ein Problem«, antwortete Richard mit normaler Stimme.
Die Tür flog auf und offenbarte den mit einem Gewehr bewaffneten Drayton. Als er Jasons Leute sah, nahm er die Waffe hoch.
Dunkle, mächtige Magie ging von George aus. Eine Frau sprang aus der Menge und packte das Gewehr. Als Charlotte ihr Gesicht sah, hätte sie sich fast übergeben. Lynda – die aufgeschlitzte Kehle ein rotes Halsband, Spritzer ihres eigenen Blutes im Gesicht.
Drayton zerrte an der Waffe, doch sie hielt sie fest und drückte sich die Läufe gegen den Bauch. Der Captain der Sklavenhändler zog durch, dann krachte gedämpft ein Schuss wie ein trockener Feuerwerkskörper und blies Fleischfetzen aus Lyndas Rücken. Die Untote riss Drayton das Gewehr aus der Hand und brach es wie einen Zahnstocher mitten durch.
Drayton taumelte zurück.
Lynda ließ das zerbrochene Gewehr vor George fallen. »Meister«, zischte sie kaum verständlich. Blutströpfchen sickerten ihr aus dem Hals. Sie blickte George ehrfürchtig an, wie ein treuer Hund sein Herrchen.
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