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Seelenverkäufer

Seelenverkäufer

Titel: Seelenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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knappe Woche später stand ich bei Vater im Laden und half ihm, Äpfel zu sortieren. Es war unterdessen August geworden und so unerträglich heiß, daß mein Vater sagte, solch eine Bullenhitze wie in diesem Jahr hätte es nicht einmal anno 1911 gegeben. Mein Vater konnte sich nämlich über vierzig Jahre zurück genau aufs Wetter besinnen. Wenn man ihn etwa fragte: >Wie war der Juni im Jahre neunzehnhundertundfünf<, dann konnte er einem genau sagen, wann es damals Regen oder Sonne gegeben hatte. Und er irrte sich nie.
    Wie wir beide da vor den Körben standen, dem einen links für die Kochäpfel und dem anderen rechts für das Tafelobst dritter Sorte, da kam auf einmal Herr Hogendahl vom Flur her in den Laden herein. Im ersten Moment dachte ich wahrhaftig, er sei stockbetrunken, und mein Vater glaubte das wohl auch, obwohl es für solch einen Mordsrausch eigentlich noch zu früh am Tage war: es ging gerade auf zehn. Hogendahl schwankte richtig herein, und mit dem ausgestreckten Arm hätte er uns beinahe die kunstvoll aufgebauten Büchsen mit Tomatenmark von der Stellage heruntergeschmissen. Er hatte Flecken im Gesicht wie ein Fieberkranker, und die Augen glühten in seinem Kopf. Einen Schritt vor uns blieb er stehen und lallte kaum verständlich: »Ich bin mit meiner Arbeit fertig! Fertig, fertig!« Und er wäre wohl im Laden umgekippt und in die Körbe gefallen, wenn ich nicht hinzugesprungen wäre und ihn gepackt hätte.
    Mein Vater, einen Apfel in jeder Hand und die Nickelbrille auf der Nase, fixierte Hogendahl über die Gläser hinweg ganz erschrocken. Weil er merkte, daß Hogendahl nicht die Spur betrunken war, stotterte er schließlich: »Na, das freut ein’ denn ja auch, Herr Hogendahl.«
    Der sah meinen Vater geraume Zeit an, als erblickte er nach Jahren der Einsamkeit auf einer weltverlorenen Insel den ersten Menschen, und er bewegte lange den Mund, ehe er den ersten Ton herausbrachte. »Nein«, krächzte er heiser, »Sie verstehen das nicht, Mann, wie einem zumute ist, wenn man den Kadaver jahrelang überanstrengt hat, wenn man immer nur wie ein Hund an der Kette gelebt hat und plötzlich die Freiheit vor sich sieht. Wenn man auf ein Ziel lossteuerte, das sich mit jedem Schritt weiter zu entfernen schien. Und man ließ nicht nach und rang weiter, wie Jakob mit dem Engel. Aber ich habe mir nicht die Hüfte verrenkt, ich nicht — ich habe sie dem Engel verrenkt, verstehen Sie?«
    Das kam mir alles ein bißchen irr vor, und ich fürchtete schon, Hogendahl wäre übergeschnappt.
    Aber mein Vater blieb ganz ruhig. »Doch, Herr Hogendahl, ich kann Sie recht gut verstehen«, sagte er und hustete, »ich bin ja auch so ein Hund, der zeitlebens an der Kette hängt, und an einer verdammt kurzen dazu.« Dabei feuerte er zwei faule Äpfel in den Korb mit dem Tafelobst und wischte sich mit dem Ärmel die Nase.
    »Kommen Sie, Herr Hogendahl«, bat ich und führte ihn aus dem Laden hinaus und in sein Zimmer zurück, was er willig geschehen ließ. »Sie können sich ja vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.«
    Vor seinem Zimmer standen unberührt die Semmeln und die Milch; drinnen brannte das Licht, die Tintenflaschen auf dem Zeichenbrett waren noch nicht zugestöpselt. Hogendahl aber fiel, so wie er war, auf das Bett und merkte nicht einmal, daß ich ihm die Schuhe auszog und ihn zudeckte. Dann korkte ich die Flaschen zu, drehte das Licht ab und schloß die Zimmertür hinter mir. Ja, so erledigt war er, daß er nicht einmal mehr von innen verriegelte. Er schlief volle vierundzwanzig Stunden durch!
    Wahrscheinlich hätte er noch länger geschlafen, wenn es mir nicht bange um ihn geworden wäre. Ich brachte ihm Mutters Frühstückskännchen mit Kaffee ans Bett und hatte ihm auf die Butterbrötchen ein paar Scheiben von der guten Salami drauf gepackt, weil es ja eine Schande war, wie heruntergekommen er aussah: ganz spitz im Gesicht und kein Gramm Fleisch auf den Rippen; er glich einem mit dünnem Leder bezogenen Skelett.
    Kaum wieder auf den Beinen, machte Hogendahl sich sofort daran, in seine Papiere Ordnung zu bringen. Er zerriß mehr als die Hälfte von seinen Zeichnungen und verbrannte sie sehr sorgfältig im Ofen. Beim Verpacken der Bücher durfte ich ihm helfen, und als wir damit fertig waren, mußte ich eine Autodroschke bestellen. Wir fuhren zuerst zum Leihamt, wo er nun auch noch die Krawattennadel versetzte und dafür sogar neunhundert Mark herausschlug, und dann zur Deutschen Bank, wo er für ein

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