Seelenzorn
sie gegangen war, den Ton wieder einschalten würde, um bei der Arbeit ein wenig Gesellschaft zu haben. Es waren solche kleinen Dinge, weshalb sie sich in seiner Gesellschaft wohlfühlte, wie so viele andere auch.
Er selbst schien sich heute allerdings nicht wohlzufühlen.
Da er nicht geschminkt war wie an den Heiligen Tagen, sah sie die Schatten unter seinen Augen, und die Stirn legte sich in Falten, als er mit einem weiteren Schlüssel den Schreibtisch öffnete und eine Akte hervorholte.
»Das hier ist vor zwei Tagen hereingekommen«, sagte er und legte die Akte mit übertriebener Sorgfalt auf den Tisch, so als könnte er ihre Bedeutung herausstreichen, indem er sie exakt in der Mitte platzierte. »Der Großälteste und ich hatten eine Reihe von Auseinandersetzungen über den Fall. Wir sind in höchster Sorge und haben uns entschieden, den normalen Dienstweg zu umgehen und dir den Fall zu übertragen.«
»Ich danke Euch, Sir«, sagte sie und beugte sich vor, »aber ich bin etwas verwirrt. Warum ausgerechnet mir?«
»Wegen der Art und Weise, wie du den Morton-Fall, äh, behandelt hast, meine Liebe. Du hast uns damit gezeigt, dass du in der Lage bist, Diskretion zu wahren, und darüber hinaus eine ausgezeichnete Debunkerin bist. Das hier ist ein sensibler Fall. Hast du schon mal von Roger Pyle gehört?«
Chess hätte am liebsten ausgespuckt. Aber ihr Mund war ohnehin staubtrocken, und so begnügte sie sich mit einem leisen Schnalzen.
»Dem Schauspieler?«
Der Älteste Griffin nickte. »Das ist er wohl mehr oder weniger, ja.«
»Er wird von einer Geistererscheinung heimgesucht?«
»Er hat eine Erscheinung gemeldet, ja. Anscheinend ist er gerade in ein neues Haus gezogen und hat dort ein paar Probleme.« Er schob Chess die Akte hin. »Es steht alles hier drin.«
Vermerke und Fotos rutschten zwischen den verblichenen Deckeln heraus, als sie die Akte aufschlug. »Er hat Aufnahmen gemacht?«
»Er hat alles genau dokumentiert.«
Sie sagte nichts, denn sie wussten beide, wie leicht sich Beweismittel fälschen ließen, insbesondere bei solchen Fotos. Es gab Aufnahmen von verschwommenen grauen Gestalten und Wänden, an denen schimmernde Streifen entlangliefen, die zwar wie Ektoplasma aussahen, aber im Grunde alles Mögliche sein konnten. Die Besitzurkunde und die Grundrisszeichnungen des Hauses sowie ein Ausschnitt aus einer alten 3-D-Darstellung des Gebäudes lagen ebenfalls bei. Chess überflog den Inhalt.
Sie blickte auf. »Da hat mal ein Mord stattgefunden?«
»Es sieht ganz so aus, ja.«
Warum hatte sie eigentlich gerade diese Woche ständig mit Mordfällen zu tun? Sie hörte nur noch von ermordeten Leuten, musste sich Leichen ansehen, und jetzt würde sie möglicherweise auch noch mit den Geistern von Mordopfern aneinandergeraten - darauf hätte sie gut und gern verzichten können.
Der Älteste Griffin rutschte in seinem Sessel hin und her. »Die Ältesten haben entschieden, dass in Anbetracht deiner ... Erfahrung mit bösartigen Erscheinungen und der Art, wie du mit Ereshdiran fertig geworden sind ...«
»Bin ich jetzt etwa die erste Anlaufstelle, wenn es um mörderische Geister geht?«
Er hob die Augenbrauen. Sie konnte nicht einschätzen, ob er amüsiert oder verärgert war. »Wir hatten den Eindruck, du seist die erste Wahl für diesen Fall, ja. Wenn dir dabei unwohl ist, können wir natürlich auch einen anderen Debunker darauf ansetzen, aber ich muss dir ja wohl nicht erklären, was ein Fall wie dieser für deine weitere Karriere bedeutet.«
Sie wartete, dass er fortfuhr. Sie wollte den Fall übernehmen, das war ihr jetzt schon klar. Wenn die Ältesten eine Entscheidung gefällt hatten, war es das Beste, sich danach zu richten.
Und außerdem konnte sie sowieso nicht widerstehen. Dass man ihr einen Fall anbot, der möglicherweise karriereentscheidend war, das hatte einfach was. Agnew Doyle zehrte immer noch von dem Erfolg seiner Ermittlungsarbeit im Fall der Grauen Türme und würde wahrscheinlich noch jahrelang davon zehren.
Doyle. An den dachte sie so wenig wie möglich. Er ging ihr inzwischen so gut er konnte aus dem Weg. Zuerst hatte Terrible ihm die Seele aus dem Leib geprügelt, weil er sie geschlagen hatte, und dann hatte Lex ihn sich auch noch mal vorgeknöpft.
Das Einzige, was ihr Sorgen machte, war das Zeitproblem. Bump und Lex zu helfen bedeutete schon mehr als genug Arbeit. Da blieb ihr jedoch gar keine Wahl, und so langsam beschlich sie das Gefühl, dass es bei diesem Pyle-Fall
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