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Seelenzorn

Seelenzorn

Titel: Seelenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stacia Kane
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auf die langen Aktenreihen der frei zugänglichen Bibliothek zusteuerte. Chess schenkte ihr keine Beachtung.
    Die Akten enthielten sämtliche Fälle angeblicher oder tatsächlicher Heimsuchungen in Triumph City - sollten sie jedenfalls; leider wurde bei der Hälfte der Fälle vergessen, sie auf den neusten Stand zu bringen.
    Und die Akten ganz am Ende ... die waren mit schlimmeren Dingen als Heimsuchungen angefüllt. Dies war das Reich der Verbrecher, sowohl der hingerichteten als auch der anderen, die vor und nach der Geisterwoche eines natürlichen Todes gestorben waren. Wie sie gerade mit dem Ältesten Griffin besprochen hatte, hallte das Verbrechen am Schauplatz eines Mordes immer irgendwie nach; oft trieb sich der Geist des Opfers dort noch lange herum, gefangen im Augenblick seines Todes, und ebenso der des Mörders, der häufig den Drang hatte, sein Verbrechen zu wiederholen.
    Den Weinenden Mann würde sie hier finden, sofern es Aufzeichnungen über ihn gab.
    Gab es. Als sie die erste Akte aufschlug, hätte sie sie beinahe fallen lassen. Ihr bot sich ein wohlbekannter Anblick, und ihr schlecht unterdrückter Aufschrei brachte ihr einen missbilligenden Blick von Goody Glass ein.
    Der Weinende Mann - auch bekannt als Charles Remington - hatte im Gebiet des heutigen Downside im frühen neunzehnten Jahrhundert zehn Prostituierte umgebracht.
    Und er hatte ihnen die Augen herausgeschnitten. Das Foto ganz oben auf dem Stapel vergilbter Dokumente hätte ebenso gut aus dem Speicherchip in Chess’ Kamera stammen können, von den ausgefransten Wundrändern bis hin zu dem Raureifüberzug. Die arme Frau.
    Fuck. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ein mörderischer Geist, der auf eine Ehrenrunde zurückkehrte. So viel zu ihrem Vorsatz, sich nicht zu sehr in diesen Fall hineinziehen zu lassen.
    Der erste Eindruck von Pyles Haus - oder genauer gesagt, von der weißen Mauer, die es umgab - half nicht im Geringsten, ihre Besorgnis zu zerstreuen oder sie von dem unangenehm lauernden Gefühl abzulenken, das sie mit sich herumtrug, seit sie diese Akte kopiert hatte.
    Die Mauer und das hohe Holztor verbargen das Anwesen und erlaubten nur einen Blick auf Baumkronen und den First eines grauen Schieferdachs. Chess hielt vor dem Tor an und kurbelte das Fenster herunter, während sie Charles Remington, seine Opfer und Daisy aus ihrem Kopf verbannte. Zeit, an die Arbeit zu gehen.
    Eine mechanische Stimme tönte aus einem kleinen Stahlkästchen. »Name und Anliegen, bitte?«
    »Cesaria Putnam, von der Kirche. Ich komme wegen Ihrer Geistererscheinung.«
    Das Tor rollte zur Seite und ließ sie durch.
    Nein, Geld war für Pyle offenbar kein Problem. Ein weißes Haus mit schimmernden Fenstern stand zwischen winterlichen Rasenflächen und kahlen Bäumen, die feindselig die Äste danach ausstreckten, als wollten sie es zu fassen bekommen. Im Sommer, wenn das Gras grün war und Laub die scharfen Konturen milderte, sah es sicher sehr schön aus. Jetzt starrte es sie nur aus Dutzenden leerer Augen an, die sie herauszufordern schienen, seinen Geheimnissen auf den Grund zu gehen.
    Chess folgte den Kehren der Auffahrt, die scheinbar eigens so angelegt waren, dass Gäste das Haus möglichst lange sehen konnten - oder umgekehrt. Endlich gelangte sie zu einem adretten Wachhäuschen.
    Ein zweiter Wachmann in dunkelgrünen Hosen und einer Jacke gleicher Farbe, die seine Schultern in ein Gebirge verwandelte, trat heraus. Unter der Uniformmütze trug er das ungerührte Gesicht einer Autoritätsperson zur Schau und hielt sein Klemmbrett wie eine Waffe.
    »Miss Putnam?«
    »Ja, das bin ich.«
    Seine blauen Augen prägten sich ohne persönliche Beteiligung jedes Detail ihres Gesichts ein, so als wäre sie eine Statue und er müsste sie später aus dem Gedächtnis zeichnen. Dann nickte er knapp. »Parken Sie Ihren Wagen bitte dort drüben.« Er stach mit dem Stift in die Luft zu seiner Linken. »Es wird Sie dann jemand ins Haus begleiten.«
    »Wo ...«, setzte sie an, aber er hatte sich bereits abgewendet, um sich wieder in seinem warmen Kabäuschen zu verkriechen, obwohl es für diesen Winter eigentlich ein ziemlich milder Tag war.
    Sie kurbelte das Fenster hoch und fuhr weiter den Weg entlang, bis er hinter einer Gruppe Kiefern verschwand. Dort gab es eine Garage für sechs Autos und davor einen großzügigen, asphaltierten Parkplatz, wo sie schon von weiteren Wachleuten erwartet wurde. War das hier ein Privathaus oder ein verdammtes Gefängnis? Sie sahen

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