Seelenzorn
Solange der Körper noch existierte, war es für die Seele um ein Vielfaches leichter, zurückzukehren.
Lex sah sie an. Sie nickte. Gemeinsam warfen sie sich mit der Schulter gegen die Tür und stießen sie so hart auf, dass sie mit einem Donnerhall gegen die Zementwand krachte.
Nichts geschah. Zum Glück, denn die hohen, schmalen Fenster waren so rußverschmiert, dass drinnen gar nichts zu erkennen war. Aus den erkalteten Öfen drang kein Licht. Chess sah kaum die Hand vor Augen, geschweige denn Lex an ihrer Seite. Aber spüren konnte sie ihn, oh ja. Ihr schlug eine starke Erregung entgegen und lockte sie, wollte sie verführen; sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, ihn zu ignorieren, dagegen anzukämpfen.
Die Luft war warm und drückend, ölig an den Nasenlöchern und am Mund. Sie hatte Angst, sich die Lippen zu lecken, weil der schwere Geruch der Gestank des Todes war. Ausgelassenes menschliches Fett, zermahlene menschliche Knochen.
Sie versuchte, den Atem anzuhalten und die Gier ihres Körpers nach Sauerstoff zu ignorieren. Dem Ersticken nahe, drängte sie den panischen Entsetzensschrei zurück, der ihr in der Kehle saß. Etwas kitzelte ihre Wange, und sie begriff, dass es eine Träne war.
Ihre speedgeweiteten Pupillen weiteten sich noch mehr. Das bisschen Licht, das von draußen hereinfiel, machte schwache Umrisse der hohen Stahlöfen erkennbar, die jetzt ruhten, nachdem sie den ganzen Tag über die Toten der Stadt verbrannt hatten. Sieben davon gab es in diesem Gebäude, so viel wusste sie no ch. Sie war einmal mit der Schule hier gewesen. Und ihr Leben lang hatten ihr Menschen einen weiteren Besuch angedroht.
Schlimmer noch als die Öfen, schlimmer als die klebrige, sexgeschwängerte Luft waren die in weiße Tücher gehüllten Leichen, die an der Rückwand aufgebahrt lagen. Sie schimmerten in der Dunkelheit und schienen zu wachsen und zu schrumpfen, zu wachsen und zu schrumpfen. Bewegten sie sich etwa? Es war so schwer zu erkennen; es mochte eine optische Täuschung sein - oder vielleicht waren die Geister dieser Toten noch nicht zur Ruhe gekommen, und jetzt lauerten sie darauf, dass ...
Reiß dich verdammt noch mal zusammen!
Sie holte tief Luft und hielt den Atem an, bis sich ihr Herzschlag beruhigte. Das war doch alles Bullshit.
Lex versetzte ihr einen Rippenstoß. Sie konnte sein Gesicht kaum erkennen, aber seine Finger an ihrem Handgelenk waren ihr vertraut. Er hob ihren Arm und deutete zur Rückwand. Richtig. Dort hinten war der Lichtschalter und auch ein Büro. Der Hinterausgang. Warum standen sie dann noch hier herum? Wahrscheinlich war der Mörder längst entkommen, verdammt.
Sie liefen über den knirschenden Boden und bemühten sich, möglichst wenige Geräusche zu machen. Aber jeder Schritt dröhnte ihnen wie ein Schuss in den Ohren.
Oder waren das gar nicht ihre Schritte? Sie riss den Kopf nach rechts und sah zu der Leichenreihe hinüber. Dort bewegte sich wirklich etwas. Nicht die Leichen selbst. Ratten. Kaum mehr als schwarze Flecken auf dem Weiß der Tücher und auch nur ein paar, aber Chess schüttelte sich. Waren sie jetzt am Boden und krabbelten auf sie zu, wollte sie ihr die Beine hinaufklettern ... ?
Sie biss die Zähne zusammen und sah weg, ging langsam weiter, bewegte die Hand mit dem Messer vor sich hin und her, spürte, wie Lex neben ihr das Gleiche tat.
Dann zerriss ein Fauchen die Stille, das wie das Todesröcheln eines Dämons klang. Das Gebäude bebte.
Die Öfen waren angesprungen. Ihre Türen standen offen.
Wo eben noch finstere Stille geherrscht hatte, war jetzt feuerrotes Licht. Chess fühlte sich plötzlich wie auf dem Präsentierteller. Sie stand buchstäblich blind inmitten einer Leichenhalle und blinzelte panisch, um ihre Pupillen zum Schrumpfen zu bringen. Sie sah weiße Flammen, wenn sie die Augen schloss, und rote Glut versengte die Netzhaut, wenn sie sie öffnete.
Die Raumtemperatur stieg schlagartig. Die Türen durften eigentlich nicht offen stehen, wenn die Öfen brannten, das war lebensgefährlich. Hatte der Mörder den Schließmechanismus zerstört? Wie zum Teufel...
Der Schweiß lief ihr übers Gesicht, und der Pony klebte ihr an der Stirn. Ihr Mantel wurde immer schwerer. Schon jetzt waren ihre Finger glitschig, und sie musste das Messer fester fassen.
Sie tastete nach Lex’ Hand. Auch seine Finger waren feucht, ebenso wie sein Gesicht. Keine Fluchtmöglichkeit, kein Versteck, diesmal nicht. Sie standen mitten in der Hölle und erwarteten
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