Seelenzorn
die Ecke zu dem kleinen Privatparkplatz hinter dem Gebäude. Der gehörte zwar nicht direkt zu ihrem Wohnhaus - aber verdammt, das Kämmerchen in ihrer Wohnung, wo Waschmaschine und Trockner untergebracht waren, ging direkt darauf hinaus. Die Fensterbank in diesem Raum war breit und bequem, und von Zeit zu Zeit saß sie gerne dort, rauchte eine Tüte und las. Wäre sie zu Hause gewesen, hätte sie etwas gesehen und einschreiten können?
Die Menschenmenge rund um die Leiche war dieses Mal größer, nicht nur Nutten standen da, sondern auch Anwohner. Bei einigen guckten die Schlafanzughosen unter den Mänteln hervor, andere hatten sich zum Ausgehen fein gemacht, aber alle zeigten denselben Gesichtsausdruck: feindselig, ängstlich, misstrauisch.
Sie kannte die Tote. Oder glaubte es zumindest, weil die breite Nase und das spitze Kinn ihr bekannt vorkamen. Es fiel schwer, außer den klaffenden, blutigen Löchern, wo die Augen hätten sein sollen, noch irgendetwas anderes an ihr zu sehen.
»Das war der Weinende Mann«, sagte jemand. »Gegen den kann nicht mal die Kirche was machen. Der ist einfach zu mächtig.«
»Das war nicht der Weinende Mann.« Chess sprach ohne nachzudenken, während sie sich neben die Leiche kniete, das Pelzjäckchen und die PVC-Bluse beiseiteschob und tatsächlich das Brandzeichen auf der Brust entdeckte. Blasenübersät, genau wie bei der anderen. Die Ärmste war noch am Leben gewesen, und zwar gefesselt und geknebelt, als er ihr das angetan hatte.
»Wer war’s denn dann?«, fragte jemand herausfordernd. »Das ist doch das Zeichen vom Weinenden Mann da auf ihr drauf, das kannste nicht abstreiten.«
»Muss der Weinende Mann gewesen sein, das sagt jeder ...«
»Es war nicht der Weinende Mann«, wiederholte sie, ohne den Umstehenden weiter Beachtung zu schenken. Wo war die Handtasche der Toten? Sie lag nicht auf dem Boden neben der Leiche oder sonstwo in der Nähe, soweit Chess erkennen konnte.
»Du hast doch keine Ahnung!«, schnaubte ein Mann. »Sollen wir etwa ’ner Junkiebraut von Kirchenhexe glauben ...«
Die Worte bohrten sich in sie wie rasiermesserscharfe Zähne. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. Ihre Wangen glühten, dass sie glaubte, sie müssten in der eiskalten Luft dampfen.
Immerhin war es nicht sehr schwer herauszufinden, wer da gesprochen hatte. Sie brauchte sich den Mann nur anzusehen, den Terrible am Nacken gepackt hatte.
»Ich hab dich nich ganz verstanden«, sagte Terrible mit ruhiger, leiser Stimme. »Kannste das noch mal wiederholen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Seine Augen traten hervor. Wie das dünne helle Haar so in Strähnen vom Kopf abstand und er die Hände zu winzigen, kraftlosen Fäusten ballte, sah er aus wie ein Käfer.
»Ganz sicher? Wenn du was zu sagen hast, spuckst du's besser gleich aus. Jetzt haben wir ja Zeugen. Später sind wir vielleicht allein, verstehste?«
Der Mann verstand. Und auch die anderen Umstehenden. Das Schauspiel der zurückweichenden Gaffer hätte Chess amüsiert, wenn sie der Anblick der Toten nicht so fertiggemacht hätte. Dieses Opfer ging auf ihr Konto. Sie hatte den Mörder nicht gefangen, sie hatte ihn entkommen lassen, und jetzt klebte das Blut des Mädchens an ihren Händen. Genau wie das von Brain. Scheiße, sie brauchte ganz dringend was zu trinken.
Terrible ließ den Mann los, der zu einem knochigen Häufchen Elend zusammensackte, und kniete sich neben Chess. »Alles wie bei der anderen, hm?«
Sie nickte. »Und ich kann ihre Handtasche nicht finden.«
»Elitha, wo ist denn die Handtasche hin? Hat sie die noch bei sich gehabt, als du sie gefunden hast?«
Elitha kannte sie auf jeden Fall. Chess hatte ihr erst vor ein paar Wochen an der Ecke eine Zigarette gegeben. »Keine Ahnung«, sagte die junge Frau und blinzelte die Tränen weg. Ihr Daumen verirrte sich an den Mund; sie kaute am Nagel und wirkte mit einem Mal wie ein kleines Mädchen, das sich nur verkleidet hatte. »Sie ist tot, und ich weiß nicht mal, wo ihre Tasche abgeblieben ist.«
»Warst du bei ihr?«, fragte Chess.
»Ich bin im Haus gewesen. Und dann ist sie da nicht aufgetaucht ...«
Terrible nahm Chess am Arm und zog sie beiseite, weg von der Menge. »Bist du dir ganz sicher, dass es nicht der Weinende Mann gewesen ist? Haste was rausgefunden?«
Sie konnte an seinen Augen ablesen, was in ihm vorging. Er würde über die Bemerkung mit der Junkiebraut einfach hinweggehen, weil er wollte, dass sie nicht mehr darüber nachdachte. Vielleicht würde
Weitere Kostenlose Bücher