Seelenzorn
sich langsam in kleine Eiszapfen. »Ich weiß nicht. Glaub nicht. Blinde werden auch zu blinden Geistern, und ihr Mörder hat ihr die Augen rausgeschnitten, also braucht sie jetzt wohl fremde Augen.«
Er nickte. »Bleibste heute Nacht bei mir?«
»Ich sollte besser nach Hause gehen.«
»Bin mir nicht so sicher, dass das ’ne gute Idee ist, wo er dich doch kennt und so. Vielleicht ist es bei mir ja doch besser, was meinst du? Da wärst du sicher.«
»Ich hab überhaupt nichts zum Übernachten dabei, und morgen hab ich ’ne Menge zu tun. Ich komme schon klar«, sagte sie, aber er hatte recht, und das wusste sie auch. Ihr Herz galoppierte unvermindert weiter, und Furcht, Erschöpfung und das Speed machten ihre Bewegungen zittrig. Sie wünschte, die Cepts würden endlich wirken.
»Und wenn ich mit zu dir komme?«
»Nein, danke.«
»Dann hol doch deine Sachen und komm rüber zu mir. Mein ich ganz ernst, Tülpi.«
Seine Fürsorglichkeit machte sie ganz kribbelig. Erst wollte er nur, dass sie bei ihm übernachtete, damit sie in Sicherheit war, als Nächstes würde er dann bei ihr übernachten wollen, und ehe sie sich’s versah ... igitt.
Sie hatte eigentlich gar nichts dagegen, bei ihm zu pennen, obwohl sie sich nach ihrem eigenen Bett sehnte. Es lag auch sicher nicht daran, dass ihr die Vorstellung eines warmen Körpers an ihrer Seite nicht behagte, vor allem heute Nacht. Ihr gefiel bloß der Gedanken nicht, dass sie darauf angewiesen war. Sie wollte, dass er sich aus ihrem Leben raushielt. Immer wenn sich jemand für ihr Leben verantwortlich fühlte, wollte er als Nächstes über sie bestimmen. Wo sie hinging, mit wem sie sich traf. Welche Pillen sie schluckte und wie oft. Die Sucht war ein empfindliches Pflänzchen und gedieh am besten ungestört. »Na gut, okay.«
»Ich hol dich dann ab, ja? Pack deine Sachen zusammen und klingle bei mir durch.«
»Okay«, sagte sie noch einmal.
Sie konnte nur hoffen, dass sie bei ihm wirklich so sicher war, wie er glaubte. Sie war verfolgt worden, ohne dass sie etwas bemerkt hatte. Wer sagte, dass Lex das nicht genauso entgehen würde?
12
Die Kirche hat dich ausgebildet. Die Kirche hat dir ihr
Vertrauen geschenkt. Die Menschen haben dir ihr Vertrauen
geschenkt. Es umgibt dich wie eine Aura, wo immer du bist,
und das darfst du niemals vergessen.
Mit gutem Beispiel vorangehen!
Ein Leitfaden für Kirchenangestellte
Terrible wartete vor der Tür auf sie. Bei seinem Anblick löste sich die Anspannung in ihrer Brust, und sie lächelte ihn an. Was für eine beschissene Nacht das gewesen war! Sie hatte Kopfschmerzen und sah immerzu dieses Gesicht vor sich, stellte sich zwanghaft vor, wie es sie verfolgte ... Ein bisschen Gesellschaft würde ihr jetzt sicher guttun. Ein paar Bier und einfach mal abschalten. Vielleicht würde er sogar auf ihrem Sofa pennen. Sie könnte Lex eine SMS schicken, dass sie doch nicht käme.
Dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck und wusste, dass er nicht gekommen war, um sich mit ihr Platten anzuhören, und dass keiner von ihnen in nächster Zeit auf dem Sofa pennen würde.
Sie blieb so abrupt stehen, dass ihr die Handtasche von der Schulter rutschte. »Noch eine?«
»Vor ungefähr ’ner Stunde.«
Vor einer Stunde. Natürlich. Vanita und ihr Verbündeter mussten sich sofort nach ihrer Flucht aus dem Krematorium auf die Suche nach einem neuen Opfer gemacht haben, um Vanita ein frisches Paar Augen zu beschaffen.
Der Kopfschmerz wurde bohrend. »Wo?«
Er zögerte.
»Wo?«
Er deutete mit dem Kopf nach rechts. »Gerade hier um die Ecke.«
Ihr Kopf dröhnte. »Bei meiner Wohnung um die Ecke? Genau hier?«
In ihrer Straße waren Tote an der Tagesordnung. Verdammt, Tote waren in jeder Straße von Downside an der Tagesordnung. Es war eben nicht gerade der sicherste Ort der Welt. Aber ein Ritualmord bei ihr um die Ecke ... Sie wussten also tatsächlich, wo sie wohnte.
Die Augäpfel, die wohlbehütet in dem Plastikbeutel in ihrer Handtasche versteckt waren, sollte sie Terrible zeigen und ihm erklären, was passiert war.
Aber nicht jetzt. Nicht hier mitten auf der Straße, wo jeder es sehen konnte und sie nicht wusste, wie er reagieren würde. Vielleicht würde er mit zu ihr raufkommen, nachdem sie sich die Leiche angesehen hatten, und dann konnte sie ihm die Augen zeigen.
Sie zog eine Zigarette aus der Handtasche und neigte den Kopf, um sie an der rauschenden Flamme seines Metallfeuerzeuges anzuzünden. »Zeig’s mir.«
Er führte sie um
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