Seemannsbraut: Eine 40000 Kilometer lange Liebesgeschichte (German Edition)
aufziehen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es war gespenstisch. Aber irgendwie auch beeindruckend.
Sonst bietet das Leben an Bord nicht gerade viel Abwechslung. Der Alltag tröpfelt so dahin. Tag um Tag vergeht. Das Einzige, das sich ändert, sind die Tage, die ich noch aushalten muss, bis ich dich endlich wiedersehe.
Weil du mich bei einem unserer letzten Telefonate nach den leichten Mädchen in den Häfen gefragt hast: Ich habe nicht die geringste Absicht, mein schwerverdientes Geld für irgendwelche leichten Mädchen zu verschwenden. Keine dieser Damen könnte es auch nur im Geringsten mit dir aufnehmen. Ich spare das Geld lieber, um dich in Bremen schön zum Essen auszuführen.
Und noch etwas: Ich ernähre mich jetzt gesünder. Ich esse viel Obst, hin und wieder einen Salat, und ich habe seit zwei Monaten keinen Alkohol mehr getrunken. In Bremen hatte ich durch die Arbeit im Café schließlich schon das eine oder andere Bier pro Abend. Hier an Bord habe ich gar keine Lust mehr auf Bier. Hilfe, ich mutiere noch zum Musterknaben.
Liebe Nancy, ich hoffe, du hast dich in der Zwischenzeit wieder etwas beruhigt und genießt deinen Geburtstag. Ich liebe dich und verspreche dir, dass wir ihn nachfeiern werden, sobald ich zu Hause bin!
Ich liebe dich!
Dein Heribert
Wir haben es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Mein Vater blättert durch die Fernsehzeitung und meckert über das dürftige Angebot. Meine Mutter stellt einen großen Teller mit frisch geschnittenem Obst auf den Tisch. Ich stöhne kurz auf, weil ich vom Abendessen noch so satt bin, dass ich mir nicht vorstellen kann, auch nur ein Stück vom Obstteller anzurühren. Das ist natürlich Quatsch. Innerhalb kürzester Zeit haben wir alle Apfel-, Bananen-, Ananas-, Kiwi- und Mangostücke verspeist. Wir haben eine Kurt-Krömer-DVD eingelegt; in dieser Folge sind die Moderatorin Ina Müller und der Gewichtheber Matthias Steiner zu Gast. Wir kennen die Folge schon, und dennoch halten wir uns die Bäuche vor Lachen. Ina Müller hat Kurt Krömer gerade den Puls gemessen. »Viel zu hoch«, lautet ihre Diagnose. Kurt Krömer, der erst vor ein paar Minuten erfahren hat, dass auch sein Blutzuckerspiegel viel zu hoch ist, wischt sich nervös den Angstschweiß von der Stirn. Plötzlich klingelt mein Handy. Das Telefon liegt auf dem Wohnzimmertisch, und wir zucken alle kurz zusammen. Die Lautstärke war auf das Maximum eingestellt.
»Heribert! Geht es dir gut?«, frage ich ganz aufgeregt und ein paar Oktaven zu hoch.
»Es geht mir gut! Ich bin gut angekommen. Das Schiff ist aber noch nicht in Caracas. Der Agent bringt mich jetzt nach Puerto Cabello.«
»Das ist ja furchtbar. Du bist doch sicher müde.«
»Nein, nein, es geht schon. Ich habe im Flugzeug geschlafen. Mach dir keine Sorgen! Der Agent sagt, die Fahrt dauert nur etwa sieben Stunden. Ich melde mich dann wieder, wenn ich an Bord bin.«
»Okay. Pass auf dich auf!«
»Ich liebe dich!«
»Ich liebe dich auch! Und liebe Grüße auch von meinen Eltern. Ich bin gerade in Falkenberg.«
»Oh, danke. Liebe Grüße zurück! Ich liebe dich!«
Dann legt er auf.
Das Gespräch dauerte genau 35 Sekunden. Aber ich will mich nicht beschweren, immerhin weiß ich jetzt, dass er gut angekommen ist. Mein Vater hat die DVD angehalten und sieht mich fragend an.
»Es geht ihm gut«, sage ich. »Er muss jetzt allerdings zum nächsten Hafen gebracht werden, weil das Schiff noch nicht da ist.«
»Warum geht er nicht einfach ins Hotel und wartet auf sein Schiff?«, fragt mein Vater.
»Papa, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich weiß er es nicht einmal selbst. So etwas entscheidet die Reederei. Vielleicht ist es billiger, ihn zum anderen Hafen zu fahren. Vielleicht will die Reederei auch nur sichergehen, dass Heribert und der andere Erste Offizier genug Zeit für die Übergabe haben.«
»Die Hauptsache ist doch, dass er sein Gepäck hat«, ruft meine Mutter beschwichtigend dazwischen.
Zu seinem Gepäck hat er gar nichts gesagt, aber meine Mutter hat natürlich recht. Wenn sein Gepäck nicht da wäre, hätte er das sicher erwähnt.
Ich würde jetzt gern noch etwas von der Krömer-Sendung sehen, aber mein Vater hat seinen Laptop ins Wohnzimmer geholt. Er will auf einer Karte nachsehen, wo Heribert genau ist. Wie spät es in Venezuela ist. Wie das Wetter ist. Und wie weit Caracas und Puerto Cabello entfernt sind. Ich finde es schön, dass er sich dafür interessiert. Ich glaube, auch wenn Heribert und meine Eltern sich
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