Seemannsbraut: Eine 40000 Kilometer lange Liebesgeschichte (German Edition)
aus Opas Garten. Am Abend des ersten Feiertages ist es Tradition, dass ich gemeinsam mit meinem ältesten Freund Martin im Wohnzimmer seiner Mutter sitze, wir uns unterhalten, etwas trinken und anschließend in unsere Kleinstadt-Disco namens Blue Velvet spazieren.
Unser Weihnachtsbaum knistert laut, während Peter und ich gleichmäßig die roten und silbernen Kugeln an den Zweigen verteilen. Der Baum ist so voll behangen mit Zapfen, dass wir ihn eigentlich gar nicht mehr schmücken müssten. Jetzt, im warmen Wohnzimmer, beginnen die Zapfen, sich langsam zu öffnen. Deshalb knackt es auch die ganze Zeit. Ich finde das herrlich. Es ist Heiligabend, draußen schneit es schon seit Stunden. Peter hat eine von unseren alten Weihnachtsschallplatten aufgelegt. Die Lieder kenne ich alle auswendig. Ich singe fröhlich mit. Peter zieht seine Stirn in Falten. Ich kann nicht singen, das weiß ich. Aber ich tue es trotzdem gern. Zumindest in einer sehr privaten Atmosphäre. Heribert verbietet mir das Singen oft. Davon würde er Kopfschmerzen bekommen, behauptet er. Plötzlich klingelt mein Telefon. Das war Gedankenübertragung, denke ich noch. Heribert ist am Apparat.
»Fröhliche Weihnachten, Herr Kapitän«, flöte ich in den Hörer.
»Fröhliche Weihnachten! Du bist ja gut gelaunt. Bist du schon zu Hause?«
»Ja, seit zwei Stunden. Und du? Wo bist du?«
»Wir sind kurz vor Florida, es sind 25 Grad, und wir werden gleich den Anker werfen.«
»25 Grad? Das ist ja furchtbar. Da kommt doch gar keine Weihnachtsstimmung auf.«
»Doch, doch. Bei uns in der Messe stehen zwei geschmückte Weihnachtsbäume. Heute Abend wird gewichtelt, und ein Barbecue gibt es auch noch. Mit Spanferkel natürlich.«
»Ach, das klingt doch wunderbar. Aber womit wollt ihr denn bitte wichteln? Ihr könnt doch nicht einfach einkaufen gehen.«
»Der Kapitän hat Order gegeben, dass jeder etwas einpacken soll. Irgendwas wird doch jeder in seiner Kammer finden. Und wenn es nur ein altes Buch oder neue Rasierklingen sind.«
»Und was ist mit der Weihnachtspost?«
»Ich habe mit dem Agenten telefoniert. Er hat behauptet, es sei nichts angekommen. Das glaube ich ihm nicht. Ich vermute, dass er nur keine Lust hat, heute noch im Hafen vorbeizukommen. Ich habe ihn aber gebeten, doch noch einmal genau nachzusehen. Ich habe ihm gesagt, ich würde auf sehr wichtige Seekarten warten.«
»Sehr gut. Ich drücke die Daumen. Und sonst? Ist alles gut bei dir?«
»Ja, alles gut. Mach dir keine Gedanken! Ich wünsche dir und deiner Familie ein tolles Weihnachtsfest. Und esst bitte für mich mit.«
»Machen wir. Und melde dich bitte, falls du deine Weihnachtspost doch noch bekommst, ja?«
»Mach ich. Ich liebe dich!«
»Ich liebe dich!«
Vor drei Wochen habe ich Heriberts Weihnachtsbrief abgeschickt. In dem gut gefüllten A4-Umschlag waren der obligatorische Brief, das frisch gedruckte Fotoalbum, ein paar Fußballzeitschriften, eine Weihnachtskarte und noch ein paar einzelne aktuelle Fotos vom Australien-Urlaub. Auch ein paar Fotos von Eileens Hochzeit waren dabei. Aber natürlich kein Foto von Jack und mir.
Heribert hatte gemeint, die Chancen stünden gut, dass der Brief noch vor Weihnachten bei ihm ankomme. Zumal die Reederei ohnehin noch Bordpost nach Jacksonville schicken wollte. Jetzt wäre ich natürlich enttäuscht, wenn er sein Geschenk doch nicht mehr rechtzeitig bekäme. Das nächste Mal ist er erst in drei Wochen wieder im Hafen.
Im Wohnzimmer meiner Eltern sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall liegen Papierfetzen herum. Auf dem Teppichboden kräuseln sich Schleifenbänder unterschiedlichster Farben und Materialien. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag. Meine zwei Opas, meine Oma, mein Onkel und meine Tante sind bei uns zu Besuch. Im Eiltempo haben wir alle unsere Geschenke ausgepackt. Zwei kleine Päckchen liegen aber noch immer unangerührt unter dem Weihnachtsbaum. Es sind Heriberts Geschenke. Eines ist von meinen Großeltern, das andere von meinen Eltern. Meine Oma hat außerdem Plätzchen gebacken. Eine Dose mit Heriberts Lieblingsplätzchen, den dunklen Schokoladen-Kokos-Talern, steht gleich neben den Päckchen unter dem Baum. Die Plätzchen, die Geschenke und ein paar der Schokoladenweihnachtsmänner werde ich mit nach Berlin nehmen und sie ins Wohnzimmer auf seine Kommode stellen. Dort werden sie dann auf ihn warten.
Meine Mutter sammelt gerade die Überreste des Geschenkpapiers vom Boden auf, mein Papa füllt die
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