Seemannsbraut: Eine 40000 Kilometer lange Liebesgeschichte (German Edition)
seine Haare wie immer zu einem Zopf zurückgebunden. Auf dem Foto ist er der Einzige mit langen Haaren. Wahrscheinlich ist er der einzige langhaarige Kapitän überhaupt. Wo ist eigentlich die Auszubildende? Ich suche das Bild nach ihr ab. Vielleicht hat sie fotografiert. Ach nein, Heribert hatte mir doch erzählt, dass sie kurz vor Weihnachten nach Hause geflogen sei. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich ziehe meine Schuhe aus, lege meine Füße auf den Nachbarsitz, lehne mich an die Scheibe und entfalte das erste Blatt. Ich beginne zu lesen, und sofort schießen mir Tränen in die Augen.
Atlantischer Ozean, auf dem Weg nach Florida, 23. 12. 2010
Hallo, meine liebe Nancy,
erst einmal: Fröhliche Weihnachten! Ich hoffe, du verbringst ein paar schöne Tage bei deiner Familie. Und ich hoffe, dass die vielen Geschenke überhaupt alle unter eurem Baum Platz finden. Da ich nicht bei dir sein kann, dachte ich, dass ich dir wenigstens einen Brief schreibe. Als Ersatzgeschenk sozusagen. Ich fürchte, mein letzter Brief an dich liegt schon eine ganze Weile zurück. Aber einen Brief zu schreiben ist auch gar nicht so einfach. Ich habe die vergangenen 30 Minuten damit verbracht, Briefpapier zu suchen. In meiner Kammer, das muss man sich mal vorstellen, in der Kapitänskammer, fand sich einfach nichts Passendes. Nur normales weißes Kopierpapier gibt es hier. Also ging ich hinunter ins Maschinenbüro. Auch da gab es nichts. Dann blieb mir als letzte Möglichkeit noch das Ladungsbüro. Und siehe da, dort habe ich dann wenigstens diesen Block gefunden, auf dem ich jetzt schreibe. Der entscheidende Vorteil, den dieser kleine Block hat, ist, dass es so ganz schnell mehrere Seiten werden könnten. Aber so viele Seiten, wie du mir immer schickst, werden es wohl leider trotzdem nicht.
Wir sind übrigens gerade auf dem Weg nach Jacksonville. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, dass wir vielleicht zu spät ankommen werden. Der Golfstrom fließt leider nicht mehr so, wie er nach den Seekarten sollte. Er ist schwächer, und damit sind wir natürlich auch langsamer. Aber vielleicht ändert sich das noch in den kommenden Stunden. Das hoffe ich zumindest. Natürlich gibt es viele Gründe, warum wir pünktlich sein sollten. Die Lotsen warten, die Schlepper und der Liegeplatz sind bestellt. Aber der Hauptgrund, warum ich es kaum erwarten kann, endlich anzukommen, ist noch ein ganz anderer. Ich habe große Hoffnung, dass wir in Jacksonville Schiffspost bekommen. Und ich kann es kaum erwarten, deinen Weihnachtsbrief zu öffnen. Ich bin so gespannt, was du dir diesmal überlegt hast. Und ich möchte schon mal danke sagen. Danke dafür, dass du eine so tolle Seemannsbraut bist. Ich kenne keinen Seemann, der einen Menschen zu Hause hat, der sich so rührend um alles kümmert wie du. Danke, dass du so bist, wie du bist. Und auch danke dafür, dass du immer so tolle Briefe und Geschenke schickst. Ich würde dich jetzt am liebsten drücken und nie wieder loslassen. Aber leider muss ich mich damit noch etwas gedulden.
Ich sehe gerade, dass meine Schrift ganz schön krakelig aussieht. Das liegt an den Vibrationen des Schiffes. Ich habe vorhin angewiesen, voll voraus zu laufen, damit wir schneller werden.
Jetzt aber mal zu meinem Alltag hier an Bord. Das Leben als Kapitän ist eigentlich sehr schön. Allein schon deshalb, weil ich mein ganzes Leben darauf gewartet habe, einer zu werden. Aber manchmal kann ich es immer noch nicht so wirklich glauben. Es kommt mir manchmal so vor, als wäre alles ein Traum. Noch ist es ein schöner Traum, und ich hoffe, dass es auch so bleiben wird. Auf jeden Fall werde ich alles dafür tun, dass du stolz auf mich sein kannst. Das ist mir nämlich sehr wichtig.
Das Einzige, was mich am Kapitänsdasein stört, ist dieser Papierkrieg, mit dem ich mich die ganze Zeit herumschlagen muss. Und diese vielen Regularien und Vorschriften, die man vor, während und nach dem Einlaufen in den verschiedenen Häfen beachten muss. Ganz zu schweigen von den vielen Anfragen der Reederei zu Besatzungs-, Maschinen- oder Sicherheitsfragen. Gestern saß ich ganze zehn Stunden am Computer, um die verschiedensten Mails zu bearbeiten. Was letztlich auch hinderlich ist, ist der Zeitunterschied zu Deutschland. Die meisten Anfragen aus Hamburg kommen hier mitten in der Nacht an. Und natürlich sind alle Anfragen immer dringend. Der Charterer, der sich mehr oder weniger in derselben Zeitzone aufhält wie wir, schreibt seine Anfragen bis
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