Seemannsbraut: Eine 40000 Kilometer lange Liebesgeschichte (German Edition)
Tränen über die Wangen. Ich schluchze. Mein Brustkorb bewegt sich zuckend auf und ab. Ich greife zum Telefon. Ich muss meine Mutter anrufen, ich muss ihr erzählen, was passiert ist. Ich möchte, dass sie mir sagt, dass das alles doch gar nicht so schlimm ist. Dass ich die vier Wochen auch noch überstehen werde. Dass durch die Verspätung doch nur die Vorfreude aufeinander steigt und sich ansonsten nichts ändert. Ändert sich sonst wirklich nichts? Was ist mit unserer Hochzeit im August? Und was ist mit Silvias Hochzeit? Wenn Heribert jetzt einen Monat länger fährt, verschiebt sich doch alles Weitere auch um einen Monat. Dann ist er im August nicht zu Hause. Dann kommt er frühestens im September. Wenn überhaupt. Ich möchte aufstehen, aber mir ist ganz schwindelig. Alles im Raum dreht sich, in meinen Ohren fängt es an, laut zu rauschen. Ich setze mich wieder hin, lehne mich an die Wand, ziehe meine Knie erneut an die Brust und wähle die Nummer meiner Eltern. Es klingelt zweimal.
»Hallo, mein Kind, kann ich dich später zurückrufen?«, meine Mutter spricht ganz schnell. Sie ist beschäftigt. Ein Protest würde jetzt nichts bringen.
»Natürlich«, antworte ich leise.
»Silvia und Sven sind gerade zu Besuch. Mit der Kleinen. Ich melde mich, wenn sie wieder weg sind, okay?«, schiebt sie als Erklärung noch hinterher.
»Okay«, sage ich matt. Im Hintergrund höre ich einen Babyschrei. »Liebe Grüße«, rufe ich noch in den Hörer. Aber meine Mutter hat schon aufgelegt.
Silvia ist meine Cousine, sie und ihr Mann Sven leben in München. Vor wenigen Wochen sind sie Eltern geworden. An diesem Wochenende sind sie auf Heimatbesuch und präsentieren der ganzen Familie ihre kleine Tochter. Meine Mutter liebt Kinder. Deshalb war sie am Telefon auch so aufgeregt. Seit Jahren schon fragt sie mich, wann Heribert und ich sie endlich zur Oma machen würden. Meine Mutter ist 51. Sie war 20, als sie mich zur Welt brachte. Ich bin jetzt 31. Für sie gehöre ich schon längst zu den Spätgebärenden.
Ich wäre jetzt auch gern zu Hause, denke ich. Ich hätte unser neues Familienmitglied auch gern gesehen. Warum bin ich nicht nach Falkenberg gefahren? Ach ja, ich muss heute Abend noch zu einer Abschiedsparty. Meine Yogafreundin Nicole geht gemeinsam mit ihrem Freund Lukas für zwei Jahre nach Südafrika. Er wurde von seiner Firma dorthin versetzt, sie begleitet ihn. Die zwei kennen sich erst seit ein paar Monaten. Ich bewundere Nicole für ihren Mut, alles aufzugeben für einen Mann, den sie kaum kennt. In den letzten Jahren habe ich aber ohnehin das Gefühl, dass es in Beziehungsfragen bei allen anderen sehr viel schneller geht als bei uns. Überall wird geheiratet, Kinder werden geboren, und Häuser werden gebaut. Jetzt also noch eine Freundin, die mich verlässt, denke ich. Plötzlich fühle ich mich ganz allein.
Ich könnte Meike anrufen. Oder Peter. Aber ich bin zu schwach. Ich bleibe einfach sitzen. Völlig regungslos starre ich die weiße Wand an. »Du musst an etwas Schönes denken«, höre ich die Stimme meiner Mutter sagen. Das sagt sie immer, wenn ich traurig bin. Ich schließe die Augen und denke an Heriberts letzte Heimkehr.
Vor etwas mehr als einem halben Jahr sind wir umgezogen. Genauer gesagt, ich bin umgezogen, denn Heribert war gar nicht da. Das Haus, in dem sich unsere alte Wohnung befand, wurde zu einer Großbaustelle. Ein neues Haus sollte in unserem grünen Innenhof entstehen. Dafür müssten fast alle Bäume gefällt werden. Es war auch vorgesehen, ein neues Dachgeschoss auf unser Dach aufzusetzen, und in unser Treppenhaus sollte ein Fahrstuhl eingebaut werden. Der Brief der Hausverwaltung mit der Ankündigung der Bauarbeiten und der anschließenden Mieterhöhung kam drei Tage vor Heriberts Abreise. Ich war am Boden zerstört. Heribert meinte, ich solle mich doch einfach nach einer neuen Wohnung umsehen. Auch ohne ihn. »Ich vertraue dir«, hat er gesagt. »Und wenn du etwas Schönes findest, ziehen wir um.« Vorsorglich schrieben wir eine Kündigung unserer alten Wohnung. Ich nahm ihm seinen Wohnungsschlüssel ab. Zwei Stunden nach seinem Abflug in Richtung Dubai hatte ich den ersten Besichtigungstermin.
Ich versuchte, mir die Wohnungen auch mit seinen Augen anzusehen. Ich wusste, was ihm wichtig war: Ein Balkon, eine Badewanne und eine große Küche. Aber die Entscheidung für eine Wohnung ist immer auch eine Bauchentscheidung. Man spürt irgendwie, ob man sich zu Hause fühlen kann oder
Weitere Kostenlose Bücher