Segel aus Stein
wieder das Schwindelgefühl.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte der Mann und füllte ein Glas mit Wasser. »Hier«, sagte er.
Sie trank. Sie sah, wie der Wind die Blätter in einem Baum dort draußen bewegte, vielleicht ein Ahorn. In den letzten Tagen hatte der Wind zugenommen, das war wie ein rauschender Vorbote des Herbstes. Sie freute sich nicht auf den Herbst.
Wieder drehte sich alles. Werde ich etwa ernsthaft krank?, dachte sie.
»Was ist also mit Anette?«, fragte Sigge Lindsten.
Die Frage muss ich stellen, dachte sie.
»Ist Anette zu Hause?«, fragte sie.
»Im Augenblick nicht«, sagte der Mann.
Sie sah sich um.
»Ist . Ihre Frau zu Hause?«
»Sie ist im Augenblick auch nicht da.«
»Dürfte ich bitte einen Ausweis sehen?«, fragte Aneta Djanali.
»Wieso?«
»Entschuldigung, aber die Sache ist etwas . verwirrend. Ich werde das gleich erklären. Aber ich muss sicher sein, dass Sie.«
»Du liebe Zeit«, unterbrach der Mann, »ich hol meine Papiere. Das wird ja richtig interessant.«
Er ging in den Flur, kehrte mit seiner Brieftasche zurück und hielt sie ihr hin. Sie sah seinen Führerschein in einer Plastikhülle. Er war auf Sigvard Lindsten ausgestellt und das relativ neue Foto zeigte den Mann, der vor ihr stand.
»Danke«, sagte sie.
Er klappte die Brieftasche zu.
»Haben Sie etwas von Hans Forsblad gehört?«, fragte sie.
»Wäre ich nicht an der Reihe, Ihnen ein paar Fragen zu stellen?«, sagte Lindsten.
»Bitte antworten Sie zunächst auf diese Frage.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Das Schwein traut sich nicht hierher. Würde er hier auftauchen, wäre das das Letzte, was er tut.«
»Wann ist Anette aus ihrer Wohnung in Kortedala ausgezogen?«
»Das war noch eine Frage.«
»Ich will versuchen es zu erklären«, sagte Aneta Djanali.
Lindsten schien plötzlich das Interesse an dem Gespräch zu verlieren. Er wandte sich zur Spüle um und drehte den Wasserhahn auf und wieder zu.
»Wann?«, wiederholte Aneta Djanali.
»Was?«
»Wann ist sie ausgezogen?«
»Sie ist nicht ausgezogen«, sagte Lindsten, »nicht offiziell. Sie hat die Wohnung verlassen, sie aber noch nicht gekündigt.«
Himmel, dachte Aneta Djanali.
Zeit, alles zu erklären.
Sigge Lindsten hatte eine Tasse Kaffee für sich gekocht. Aneta Djanali wollte keinen. Sie hatte die Leitzentrale angerufen und einen Einbruch gemeldet. Sie hatte die Kollegen vor Ort angerufen.
Die ganze Zeit war sie sich wie ein Idiot vorgekommen.
Hätte Fredrik als Erstes Ausweise verlangt, wenn er sie gewesen wäre und in Anettes Wohnung einen netten, gequälten Vater und einen muffigen Sohn angetroffen hätte? Sie war nicht sicher. Sie würde ihn fragen.
Es war eine interessante psychologische Situation, und sie war geradewegs hineinmarschiert. Der Mann, der behauptet hatte, er sei Sigge Lindsten, hatte in der Situation einzigartige Geistesgegenwart bewiesen. Einzigartig. Er hatte sie beherrscht. Er hatte den jüngeren Mann beherrscht. Als sie an die knappe Stunde zurückdachte, die sie in der Wohnung verbracht hatte, begriff sie, wie geschickt er alles gelenkt hatte. Eine knappe Stunde! Während sie dabei waren, eine ganze Wohnung zu leeren, hatte die Polizei an die Tür geklopft, und sie hatten sie zu Kaffee eingeladen und ihr auch noch zum Abschied nachgewinkt.
Es war komisch, aber es war noch etwas anderes.
Sie hatte sich blamiert.
Vor den beiden Männern.
Und vor Hans Forsblad. Wenn ER das überhaupt gewesen war. Vielleicht war es auch ein anderer gewesen?
»Haben Sie ein Bild von Forsblad im Haus?«
Lindsten holte ein gerahmtes Foto. Eine junge Frau und ein junger Mann, die um die Wette lächelten. Seitdem waren vielleicht einige Jahre vergangen, aber sie erkannte Forsblad von der Begegnung in der verdammten Wohnung.
Ihr wurde klar, dass sie Anette zum ersten Mal sah, sie richtig sah. Sie war ohne ein Gesicht vor ihrem inneren Auge hierher gekommen. Das war ungewöhnlich für sie. Zum ersten Mal. Aber sie war hergekommen. Etwas hatte sie hierher getrieben, und an dem Gedanken war etwas Erschreckendes.
Plötzlich dachte sie an den Tod. Sie dachte an ihren eigenen Tod. Sie spürte wieder die scharfe, aber fliehende Ahnung eines Schwindelgefühls, als ob sie in einen Abgrund, in Finsternis gezogen würde.
Etwas sagte ihr, dass sie vor diesen Menschen fliehen sollte, diesen Ereignissen. Flieh vor allem, SOFORT, weg von diesem Fall, dieser Ermittlung, bevor es noch größer, noch unbegreiflicher, schlimmer wird.
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