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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Herzen, dass Neverland so ohne Weiteres eine fremde Stadt schlucken könnte, ohne sich selbst zu verändern?« Er schüttelte den Kopf. »So dumm seid ihr nicht. Ob ihr siegt oder nicht, der Umbruch wird eure prächtige Stadt zerstören. Hat es in großen Teilen nicht schon begonnen?«

    Damit hatte er einen Nerv getroffen. Für diesen Angriff hatte man nicht nur Neverlands Grundriss verändert, sondern die Stadt auch im Verhältnis zu ihren Nachbarn verschoben. Corbus hatte richtig kalkuliert, das hatte Unwillen hervorgerufen.
    Â»Aber das muss nicht sein!« Er rollte die Worte heraus, als wären es schwere Steine. Wie vor einigen Tagen in der Arena von Stonecloud spreizte er Arme und Beine sternförmig auseinander und rief: »Lasst uns ein Bündnis schließen, Nachbarn! Nicht als Eroberer oder Sklaven, sondern als gleichwertige Partner. Gemeinsam können wir Nein sagen zu diesem sinnlosen Krieg. Wir können unsere Städte in alter Pracht wiedererstehen lassen! Wir können in Frieden zusammenleben!«
    Die Worte hallten mehrfach wider, dann verklangen sie in der Ferne. Lange war es still, auf der Ebene der aufeinander zustrebenden Gebäude regte sich nichts. Dann öffnete sich gegenüber von Corbus ein Fenster.
    Ein alter Mann erschien. Auch er war waffenlos und hielt ein einziges Stückchen Papier in der Hand: einen Schein der geheimnisvollen Rechtewährung, die seit Kurzem in beiden Städten kursierte.
    Er schwebte ins Freie. Die beiden Männer trafen sich in der Luft, streckten langsam die Arme aus und reichten sich die Hände.
    Ein Keuchen war zu hören: In den Augen der Menschen, die sich eben noch hinter ihren Fenstern verkrochen und auf den Angriff gewartet hatten, flammte Hoffnung auf. Zögernd sammelten sie sich, zeigten mit den Fingern auf die beiden Gestalten und tuschelten.
    Doch dann ertönte ein Aufschrei: »Verräter!«, und auf der Seite der Gretel sprang eine einzelne Gestalt mit
einem Gewehr im Anschlag aus einem Fenster. Ein Schuss krachte, der alte Mann zuckte zusammen und ließ Corbus’ Hand los. Ein zweiter Schuss folgte, Corbus schrie auf und fasste sich mit einer Hand ans Ohr. Dunkles Blut spritzte in die Luft. Er packte ein Seil und zog sich zu seinem Fenster zurück.
    Aufgeregte und wütende Stimmen breiteten sich kreisförmig um den Treffpunkt der beiden aus wie Wellen in einem Teich. Plötzlich krachten überall Schüsse, die übrigen Gebäude rieben sich knirschend aneinander, und über die Städte Stonecloud und Neverland senkten sich Chaos und Wahnsinn herab.
    Â 
    Antaea betrat eine Straße in Schwerelosigkeit. Als sie durch den Zugangsschacht nach oben kletterte, hatte sie sich vorgestellt, sie gleite horizontal über die Leitersprossen; folglich schaute sie nun, als sie den Metalldeckel auf der Straße beiseite schob und den Kopf hinausstreckte, an einer riesigen Mauer aus Kopfsteinen hinunter (beziehungsweise hinaus). Ohne eine vorherrschende Richtung erregte die Straße in einer Weise Höhenangst, wie sie es noch nie erlebt hatte.
    Hinter dem Schaufenster auf der anderen Straßenseite schwebten Weißbrotstangen und Brotlaibe wie durch Zauberei in der Luft; die Schindeln auf dem Ladendach hatten sich aufgestellt wie das Nackenfell eines verängstigten Tiers. Etwas weiter unten an der Straße hing eineinhalb Meter über dem Pflaster ein Schaukelstuhl; und der Schleier aus Staub, Steinchen und Kies, der sich im Lauf der Jahre auf jeder horizontalen Fläche abgelagert hatte, verteilte sich langsam in der Luft.

    Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und stellte sich im Geist ein neues Oben und Unten vor, in dem die Straße flach verlief und alles andere zufällig schwerelos war. Es half ein wenig; als sie die Augen wieder aufschlug, konnte sie so tun, als träte sie auf eine gewöhnliche Fahrbahn und hätte nur zusätzlich die Fähigkeit zu fliegen.
    Die Schwerkraft wich langsam von den Dingen, die sie so lange in ihrem Bann gehalten hatte. Überall ächzte, knackte und knirschte es. Dank dieser Geräusche und der fernen Explosionen hätte Antaea das Scharren hinter sich fast überhört. Als sie sich umdrehte, sah sie aus einem offenen Fenster im zweiten Stockwerk ein Gewehr auf sich gerichtet.
    Sie hob die Hände. »Ich gehöre zur Stadt!«, rief sie.
    Es wurde still. Dann ließ sich eine leicht panische Stimme vernehmen:

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