Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
an Mathis’ glühender Wut.
»Mathis«, brüllte Blanche ihm ins Gesicht, während sie ihn an seinem Kittel packte und schüttelte, »hör mir zu! Yann fährt mit dir zur Schmiede, und ihr beide spannt den Wagen ab. Dann bringt er mir Eve her, damit sie mir hilft. Du nimmst dir das Pferd und machst, dass du wegkommst. Schaue nach, ob es Catheline gut geht.«
Catheline.
Ihr Name ließ die Wut augenblicklich in sich zusammenfallen. Zurück blieb nichts als kalte Angst. Angst um Catheline. Ernickte, bemerkte Pfarrer Jeunet, der mit bleichem Gesicht im Türrahmen stand, auf Jola schaute, die Finger um seinen Gehstock gekrallt, dass die knotigen Knöchel sich als weiße Hügel unter der Haut abzeichneten. Wortlos hastete Mathis an ihm vorbei und saß kurz darauf wieder auf der Ladefläche. Auf der Ladefläche, auf der Raymond gelegen hatte. Und nun auch Jola.
In den Wäldern bei Saint Mourelles
I hre Gedanken kreisten um Mathis. Verdrehten sich ineinander und schraubten sich in die Höhe, immer weiter hinauf, so weit, dass kein anderer Gedanke mehr folgen konnte. Die Lieder in ihrem Kopf waren verstummt, als hätte die stete Wiederholung sie zerschlissen wie Leintuch, das zu lang getragen worden war. Zweimal war sie in den letzten Tagen, die sich rückblickend nicht mehr auseinanderhalten ließen, im Morgengrauen zum Fluss gelaufen, die einzige Unterbrechung des eintönigen Herumhockens, die einzige Gelegenheit, die ungelenk gewordenen Glieder in Bewegung zu bringen.
Immer wieder war sie zum Ausgang der Höhle gekrochen, hatte gehofft und in den Wind gelauscht. Dass Mathis wiederkäme. Dass er neues Brot brachte, ein wenig aus dem Dorf erzählte, ihr Gesellschaft leistete.
Doch er war nicht erschienen, und nun saß sie, die Augen geschlossen, auf ihrer Decke. Ihre Gedanken wanden sich aus der Umklammerung der Enge, hinaus aus dem Gestein, zurück in die Pfarrei, in einen Alltag, in dem Stimmen erklangen, Gesang sich erhob, Hände einander berührten und der Rücken vom Arbeiten schmerzte. Warm und weich wie frisch geschorene Wolle hüllte die Erinnerung sie ein.
Mehrfach war ihr der Kopf auf die Brust herabgesackt, mehrfach war sie zusammengezuckt und hatte wieder dem Wind gelauscht. Doch dieses Mal konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, was sie geweckt hatte. War es ihr Kopf, der sich einmal mehr der einschläfernden Last des Nichtstuns gebeugt hatte, oder war es etwas anderes gewesen?
Ihr Herz begann hastig zu schlagen, als sie Mathis den Hang heraufreiten sah. Er kam. Endlich.
»Die letzten Male war es dir so wichtig, dass dich niemand sieht«, sagte sie lächelnd, als er sich in die Höhle zwängte. »Heute, auf dem Pferd, habe ich dich schon aus der Ferne gehört und gesehen.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Schön war das.«
Ohne ein Wort zu sagen, schlang Mathis seine Arme um sie. »Du bist hier, und es geht dir gut«, sagte er leise.
Catheline trat einen Schritt zurück. Was zuvor noch trügerische Glückseligkeit gewesen war, wich anschwellender Unruhe. »Was ist mit dir?«, flüsterte sie zurück, ohne zu wissen, warum sie die Stimme senkte. »Du hast keine Tasche dabei, kein Brot, keinen Honig, nichts. Was führt dich hierher?«
»Ich hatte solche Angst um dich.« Erneut zog Mathis sie an sich.
Erschrocken stemmte Catheline die Hände gegen seine Brust. »Sag es mir! Sag mir sofort, was geschehen ist!«
»Jola wurde zusammengeschlagen. Yann hat sie gefunden. Wir hatten Angst um dich, Blanche meinte …«
»Jola? Was ist mit ihr?«
»Sie ist verletzt, Blanche und Eve kümmern sich. Wir wollten nicht warten, wir mussten wissen, ob es dir gut geht. Aber habe keine Angst, Jola wird durchkommen. Sie ist stark.«
»Wer war das?« Die Bestürzung vertrieb die letzten Reste Trägheit, die noch im Leib hingen, und Catheline fühlte, wieihre Gedanken klar wurden. Klar und eiskalt. Auf Rache sinnend.
»Seit der Baron verhaftet ist, gerät alles aus den Fugen. Der Hauptmann und seine Männer marodieren durch das Dorf und verbreiten Angst und Schrecken, damit niemand nach Nantes zum Prozess reist, um auszusagen.«
»Komm, wir müssen sofort gehen«, sagte Catheline und packte seine Hand. »Ich muss wissen, wie es um Jola steht.«
»Du gehst nirgends hin. Noch nie war ich so froh, dich hier zu wissen. Ich flehe dich an, bleib hier. Ich verspreche dir, dass ich jeden Tag kommen werde und dir alles berichte, aber du bleibst hier. Jola wird es auch so wollen, und wenn du es nicht für dich und sie
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