Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
den Anfang mache. Vielleicht habe ich den Ausschlag gegeben. Wenn eine kleine, alte Frau sich erhebt, dann ist es einfacher, zu folgen.«
»Blanche, du hast gelogen! Warum, verdammt, hast du es mir erzählt? Was meinst du, was ich jetzt mache?«
Sie sah ihn eindringlich an. »Nein, ich habe nicht gelogen, das ist die Wahrheit meines Sohnes. Und du wirst sie als solche annehmen, um die zu schützen, die du liebst.«
Schloss Nantes
I m ersten Morgengrauen tauchte Julien das Tuch in den Waschzuber, wrang es nicht aus und zog es sich über den Nacken. Kalt rann ihm das Wasser zwischen den Schulterblättern den Rücken hinab. Er schüttelte sich fröstelnd und beugte sich vor, um sein Gesicht ins Wasser zu tauchen. Eine grobe Methode, die Lebensgeister zu wecken, aber momentan die einzige, die weiterhalf. Denn an Schlaf war kaum noch zu denken, seit er in Schloss Tour Neuve untergebracht war, so dicht wie nur möglich am Ort des Geschehens.
Sein Körper schien die Fähigkeit verloren zu haben, sich zu erholen. Unruhig warf Julien sich des Nächtens auf seinem Lager hin und her, bis er das Licht wieder entzündete und von vorn anfing. Alle Unterlagen durchging und halblaut Reden hielt, in denen er sich für den Fall vorbereitete, dass er aufgerufen wurde, sich zu dem einen oder anderen Sachverhalt zu äußern. Für jede denkbare Frage musste er die richtige Antwort, für jedes nicht erahnbare Problem sofort die Lösung parat haben.
»Es ist ein Jahrhundertprozess. Mit meinen Vorbereitungen steht und fällt dieser Prozess. Es hängt mehr als ein Leben an diesem Urteil«, sagte er laut und drückte den Rücken durch. Dann seufzte er, legte die Unterarme auf den Rand des Zubers und sah sein Gesicht im Wasserspiegel. Verzerrt tanzte es auf der unruhigen Oberfläche hin und her. Julien rührte sich nicht und wartete, bis das Wasser sich glättete und ihn sein Gesicht betrachten ließ. Bisher hatte der fehlende Schlaf noch keine Ringe unter seinen Augen hinterlassen, nur erste Schatten auf seinen Wangen zeichneten sich ab, die er später vom Bartscherer entfernen lassen musste. So sah er also aus, der Mann, der die Fallstricke ausgelegt hatte, in die der Baron nun treten sollte. Gleichmäßige Züge, noch immer eher ein Jüngling denn ein Mann. Ein Anblick, den Frauen mochten und der Männer verleitete, ihn zu unterschätzen.
Während Julien sich ankleidete, sah er vor seinem inneren Auge den großen Sitzungssaal, in dem der Baron heute nicht erscheinen würde. In einem bewachten Gemach in Tour Neuve würde der Bischof ihn heute schmoren lassen, ihn der Einsamkeit der Ungewissheit überlassen. Einer Ungewissheit, in der nur gewiss war, dass man wenige Schritte entfernt über ihn zu Gericht saß.
Julien blieb kurz stehen und beobachtete die Männer und die Frauen, die vor dem großen Saal warteten. Die meisten von ihnen waren blass und hohläugig, als hätten auch sie kein Auge in der Herberge, in der sie untergebracht worden waren, zugetan. Dicht gedrängt standen sie beieinander, und wenn sie miteinander sprachen, achteten sie darauf, dass ihre Stimmen sich nicht über ein Wispern hinaushoben.
»Guten Morgen«, sagte Julien, streckte den Brustkorb vor und ging mit weit geöffneten Armen auf die Zeugen zu, dieheute befragt werden sollten. Ein Haufen Bauern aus Saint Mourelles und Port-Saint-Luc. »Der erste Prozesstag hat stattgefunden, und nun ist es an Ihnen, hier Rede und Antwort zu stehen. Der Prozess wird unter dem Vorsitz des obersten Richters der Bretagne, des Vertreters der weltlichen Instanz, eingesetzt von Herzog Johann, geführt. Er heißt Pierre l’Hôpital und ist ein umgänglicher Mann, den niemand zu fürchten braucht. Dennoch, das muss allen klar sein, ist die Inquisition die rechtsprechende Gewalt, eingesetzt vom ehrwürdigen Papst. Sie leitet, so kann man es sagen, den Prozess über den Kopf des Herzogs hinweg. Vergesst das nicht, Ihr steht hier mehr oder weniger vor dem Papst. Sicherlich werden wir alle in unserem kleinen Dasein ihm niemals näher sein.«
Schweigend sahen die Männer und Frauen ihn an.
Ja, dieser Auftakt war ihm gelungen. Julien wusste, dass er sicherstellen musste, dass die Zeugen den Ernst der Lage begriffen und nicht im letzten Augenblick versagten. Er ahnte die Angst, die jeder von ihnen in sich trug, und war nicht willens, darauf Rücksicht zu nehmen. Seine Angst war nicht kleiner, und auch diese wurde mit Füßen getreten. »Das weltliche Gericht wird im Anschluss an den
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