Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
tun willst, dann tue es für mich. Bitte!«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Jola ist meine Schwester, ich kann sie doch nicht alleinlassen.« Ein Zittern durchlief Catheline. »Mathis, wenn du willst, dass ich bleibe, dann geh bitte nicht weg. Lasse mich jetzt nicht alleine mit dieser Angst, ja?«
Ohne ein Wort zu verlieren, legte Mathis sich auf die wollene Decke, zog Catheline zu sich und bettete ihren Kopf auf seinen Brustkorb. Seine Hand schob er auf ihren Rücken, und sie schwiegen.
»Schlaf ein wenig«, flüsterte Mathis irgendwann. »Ich bin da.«
In den Gassen von Nantes
E s ist die Weisheit des Alters, die sich am gestrigen Tag bedient, um den morgigen zu gestalten«, sagte Blanche und lächelte zufrieden.
»Weisheit des Alters? Das ist Torheit und keine Weisheit«,entfuhr es Mathis lauter, als er beabsichtigt hatte. Jola, die auf dem Wagen vor ihnen saß und sich wie die anderen vor Gericht Geladenen nicht sattsehen konnte am Treiben der Stadt, drehte sich stirnrunzelnd zu ihnen um.
»Sieh sie dir an«, entgegnete Blanche mit gesenkter Stimme. »Sie wird Catheline mit den Jahren immer ähnlicher, und wir können von Glück sagen, dass diese Schweine sie nicht der Reihe nach mit Gewalt genommen haben.«
»Er hatte mir gedroht, mit seinen Männern wiederzukommen, mir …«, erklang in Mathis noch einmal Jolas Stimme. Erst nach zwei Schlucken Apfelwein war sie in der Lage gewesen, weiterzureden.
»Sie haben mir den Kittel zerrissen und sind johlend um mich herumgestanden. Dann haben sie mich von einem zum anderen gestoßen und mich begrapscht. Einer von ihnen zog seinen steinharten Schwanz heraus und wedelte vor mir damit herum. Dann zwang der Hauptmann mich in die Knie, mein Gesicht direkt über seinen Stiefeln. Ich war sicher, dass sie nun beginnen. Ich schrie. Winselte um Gnade. Rief die Heiligen an. Der Hauptmann lachte nur, so dreckig und widerlich, dass ich wünschte, ich hätte auf seine Stiefel erbrochen. ›Der Baron muss für die Taten seiner Männer geradestehen. Niemand soll ihn jemals mit einer Vergewaltigung in Verbindung bringen. Aber wer kann etwas dagegen tun, wenn ein jähzorniger Küchenmeister seine Magd totprügelt?‹, hat er gehöhnt und mir mit dem Stiefel ins Gesicht getreten. Er fragte mich nochmals, wo Catheline sich befindet. Aber ich war vom Schlag benommen und bekam keinen Ton heraus. Dann trat er wieder zu. Immer wieder. Überallhin. Bis mir schwarz vor Augen wurde.«
Die Worte hatten sich in Mathis’ Kopf eingebrannt und verursachten noch immer ein Aufsteigen bitterer Galle. Mitleidig strich sein Blick über Jolas Profil, das tatsächlich dem von Cathelineimmer ähnlicher wurde. Die Schwellungen der Lippen waren zurückgegangen, die Flecken auf ihrer Wange und am Kinn hatten inzwischen einen sattblauen Ton angenommen. »Was hat das damit zu tun, Blanche? Als du die Falschaussage gemacht hast, war nicht daran zu denken, was mit Jola geschieht …« Ihm fehlten die Worte, sodass er den Satz unvollendet ließ.
»Ich habe keine Falschaussage gemacht.« Noch immer klang Blanches Stimme gleichgültig.
Unsicher sah Mathis sich um, ob irgendwer ihrem Gespräch lauschte. »Du hast dem Magister erzählt, du hättest den Baron im Wald gesehen. Mit Rachel. Und eben hast du mir eröffnet, dass du ihn nicht gesehen hast.«
»Ja, aber Avel hat den Baron gesehen an dem Tag, an dem er mit Rachel Reisig sammeln war.«
Ungläubig beugte Mathis sich zu Blanche vor. »Wie bitte? Was soll das heißen?«
»Als wir Rachel gesucht haben, hat Avel gesagt, dass er einen schwarzen Reiter im Wald gesehen hat.«
»Dein Sohn hat immer irgendwelche Fantasiegestalten gesehen. Da waren silberne Pferde, einmal erzählte er mir von einer Schlange, die lang war wie sieben Männer und dick wie ein Baum. Gott habe ihn selig, aber du weißt, wie Avel war.«
»Ich weiß genau, wie er war, und der Baron war immer der schwarze Ritter für ihn. Ich habe dem nur damals noch keine Bedeutung beigemessen. Und da ich schlecht aussagen kann, dass mein Sohn, den nie jemand ernst genommen hat, den Baron gesehen hat, habe ich ihn nun gesehen.« Blanche schwieg kurz und sah Mathis eindringlich an. »Du verstehst es nicht, oder? Irgendwer musste den Anfang machen. Die anderen wollten zwar aussagen, zögerten aber, auch wenn es vielleicht nur ein winziges Stückchen Mut war, das ihnen fehlte. Ysa wollteunbedingt aussagen, konnte aber Martin nicht überzeugen, der Angst hatte. Also habe ich gesagt, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher