Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
Inquisitionsprozess ebenfalls über den Baron befinden, doch dieses Gericht ist eher eine Formsache und letztlich nur zur Ausführung des Strafmaßes berechtigt. Sollte per Inquisition das Todesurteil gesprochen werden, wird die weltliche Instanz es umsetzen.«
Hörbar sogen einige der Zeugen die Luft ein.
»Ja, hier geht es um Leben oder Tod, ich hoffe, das hat jeder von Ihnen verstanden?«
Das Kopfnicken in der Runde war zaghaft.
»Die Befragungen werden sich heute mit den Morden befassen, und ich hoffe, dass jeder noch weiß, was er mir gegenüberausgesagt hat. Wenn nicht, sprecht mich bitte jetzt an. Nicht, dass in der Aufregung die Erinnerung schwächelt.«
»Können wir sicher sein, dass die Herren Richter unserem Wort Gehör schenken?«, fragte Mathis Maury, der wortkarge Bauer mit dem Treibstecken.
Julien sah in diesem Moment, als wäre es eine Fügung Gottes, hinter den Zeugen den Schreiber des weltlichen Gerichts den Flur herabeilen. Vor sich her trieb er, auch wenn er einen gehörigen Abstand hielt, weil er sich stets vor Läusen und Flöhen fürchtete, mehrere zerlumpte Kinder, allen voran ein Mädchen von vielleicht zehn oder elf Jahren. Wenn Julien sich recht erinnerte, vermisste sie ihre Schwester Nene.
»Dreht Euch um, die Herren Richter nehmen selbst die Aussagen von Bettlerkindern ernst. Vor Gott sind wir alle gleich«, sagte er und war zufrieden, dass der Schreiber des weltlichen Gerichts die Kinder gefunden, zur Aussage gebracht und im rechten Moment den Gang hinuntergejagt hatte. Ja, er konnte es nicht anders benennen, er war wirklich zufrieden mit seiner Antwort und sicher, dass die Zeugen nun, im Angesicht der Kinder, auch ihren Mut zusammennehmen und bei ihren Aussagen bleiben würden.
In den Wäldern von Saint Mourelles
M athis hatte Wort gehalten und war jeden Tag in der Höhle erschienen, um Catheline zu erzählen, wie weit sich Jolas Zustand verbesserte. Am Tag vor der Abreise nach Nantes, als er kam, um sich von ihr zu verabschieden, hatte es geregnet. So stark, dass der Regen durch den Spalt in der Decke in Rinnsalen an den Felswänden herabgelaufen war.
Seine Augen waren dunkel, als er sie anschaute. Er beugte sich vor und verharrte, unmittelbar vor ihrem Mund. Dann berührten seine Lippen die ihren, kurz und sanft. Erschrocken zog er den Kopf zurück, als versuchte er, die Erlaubnis für das, was er tat, in ihren Augen zu finden.
Catheline nickte nur, kaum merklich, und wieder fanden sich ihre Lippen.
Mache es.
Mache, was immer du tun willst, dachte sie und schloss die Augen. Versank. In seinem Kuss, in den Wogen der Lust, die ihren Unterleib in Wellen zusammenzogen, und im Keuchen, das zwischen den Küssen ihren Mündern entwich. Sie hatte warten wollen, nie hatte dies für sie außer Frage gestanden. Sie hatte warten wollen, bis Mathis sie zum Altar geführt hatte. Aber das Leben war zu kurz, das Fegefeuer zu lang. Sie wollte ihn hier und jetzt. Auch wenn es nur für diesen einen Moment war.
Lang hatten sie beieinandergelegen, und Catheline hatte die Wärme seines Körpers und seinen Herzschlag gespürt. Irgendwann war sie dann allein in der Kühle und dem Halbdämmer dieses Lochs zurückgeblieben.
Inzwischen hatte sich die nächste Nacht herabgesenkt, und die Öffnung in der Höhlendecke war wieder einmal mitsamt den Felsen zu einer einzigen schwarzen Wand verschmolzen. Dunkel, nichts als rabenschwarzes Dunkel umgab Catheline.
Durstig richtete sie sich auf, um nach dem Wasserkrug zu fassen. Als sie den rechten Arm ausstreckte, spürte sie, dass ihr Ellenbogen gegen den Ton stieß. Sie versuchte, den Krug zu packen. Doch ihre Fingerspitzen fühlten nur noch den hölzernen Verschluss, der sich löste, während das dumpfe Scheppern des Tons erklang. Das Schlimmste jedoch war das Schwappen des Wassers. Sofort kniete Catheline sich hin und stieß mit dem Knie gegen den Krug, der nochmals zur Seite rollte. Sie hörte esnicht mehr, aber sie wusste, dass auch der letzte Rest des Wassers nun im Moos versickerte. »Nein, das darf nicht sein! Bitte nicht, so ein Dreck!«, fluchte sie, tastete mit den Fingern nach dem Wasser und wischte hastig letzte Tropfen auf. Benetzte die Lippen und spürte nur die Flusen nassen Mooses. Sorgfältig befühlte sie den Tonkrug. Nur eine Kante war am oberen Rand herausgebrochen, ansonsten schien er unversehrt. Sie suchte den Verschluss und legte beides neben sich auf die Decke. Die Zunge lag ihr schwer und klebrig im Mund. Wenigstens ein Grund,
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