Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
versuchte, ihre Irritation zu verbergen. Da sie keine Erklärung finden konnte, wozu er Essig und Brennnesseln brauchte, aber nicht zu neugierig erscheinen wollte, wies sie, auch um sich selbst abzulenken, auf den vollen Eimer. »Der Küchenmeister wartet dringend darauf. Aber ich kümmere mich gleich danach um alles Weitere.«
Der Pater griff sich den Eimer, wobei er ihre Hand berührte. »Lass mich das machen, ich bringe ihm das Wasser. Vielleicht hat er ja etwas Ähnliches wie Brennnesseln, ich werde ihn fragen.«
»Nein, bitte, Ihr könnt doch nicht das Wasser schleppen. Ich muss das …«
»Und ob ich das kann!« Pater Bertrand winkte ab. »Mach dir keine Gedanken, ich werde dem Küchenmeister ausrichten, dass ich dich angewiesen habe, einer Bitte des Barons nachzukommen. Los, los!« Wieder zeigte er sein gewinnendes Lächeln. Dann verschwand er in Richtung der Küche.
Verwirrt sah Jola sich um. Vielleicht sollte ich Babette holen, damit sie mir zur Hand geht. Sie könnte zu den Knechten laufen und dafür sorgen, dass eine Truhe zum Pater geschafft wird. Ich werde derweil veranlassen, dass der Knappe das Reisegepäck des Barons zusammenstellt. Sie nickte, so würde sie es machen. Die Schürze und den Rock bis zu den Knien hochgerafft, rannte sie zu den Stallungen. Dorthin war Babette gegangen, um die Ziegen zu melken.
Jola lächelte. Die Begegnung mit Pater Bertrand würde Stoff geben für das nächtliche Getuschel. Sie konnte es schon vor sich sehen, wie Ania und Babette nachts auf ihren Strohsäcken hockten, die Schaffelle um die Schultern gelegt, und ihrer Geschichte lauschten. Was würde es da nicht alles zu berichten geben: die vollen Lippen, diese Augenfarbe, die im Licht moosgrün erschien, und erst die gepflegten Hände und Finger.
Saint Mourelles
K aum dass Blanche ihren Sohn auf dem Karren entdeckt hatte, war sie zusammengesunken. Nun saß sie im Schnee, wiegte wie von Sinnen den Oberkörper vor und zurück und stieß Klagelaute aus, die Mathis das Herz gefrieren ließen. Irgendwer musste ihr aufhelfen. Sollte sie noch länger dort verharren, würde die Kälte ihr den letzten Rest Kraft rauben. Kraft, die sie brauchen würde für den Abschied.
Pfarrer Jeunet kam, auf seinen Stock gestützt, zum Karren. Unter dem Arm trug er ein gefaltetes Leintuch, das er dem Schmied Yann übergab. »Sei so gut, decke den Jungen damit zu«, bat er. Dann wandte er sich an Blanche. »Wir werden Avel zu dir bringen, dann kannst du die Totenwaschung vornehmen«, sprach er, ohne die Stimme anzuheben, in ihr Klagen hinein. »Geh mit Grete und Catheline, es wird ein wenig dauern, bis wir den Karren durch den Schnee bekommen. Bereitet derweil alles vor.«
Das Klagen verstummte. Blanche schüttelte den Kopf. Erhob sich, schwankte und hielt sich am Karren fest, warf einen Blickauf das Tuch, unter dem sich der Leib ihres Sohnes abzeichnete. Sie zog den Stoff beiseite und hob die Hand. Schloss Avel die Augenlider und dann den Mund, wobei sich ihre Finger rot färbten. Dann setzte sie einige taumelnde Schritte, bis Grete neben sie trat und sie stützte.
»Komm, wir gehen jetzt«, sagte die Dorfälteste nur und nickte Catheline zu, die, noch immer weiß wie frisch gefallener Schnee, abseits stand und sich an der Unterlippe herumzupfte, die bereits blutete.
Zurück blieben Yann, Gabin, Martin und Pfarrer Jeunet. Wie auch Mathis starrten sie alle auf das Tuch, das sie nicht freiwillig anheben würden, um den Jungen in die Kirche zu tragen. Für den Moment sollte es ein Schild sein zwischen ihnen, ihrem Schmerz und dem grausamen Anblick des zertrümmerten Schädels.
»Wo habt ihr Avel gefunden?«, fragte der Pfarrer und wischte sich Schneeflocken, die wieder zu fallen begonnen hatten, aus dem Gesicht.
»In der Nähe des Feenbaums, wir haben ihn vom Abhang aus gesehen«, sagte Mathis leise.
»War er bereits tot?«
Vor seinem inneren Auge sah Mathis, wie Catheline sich angeschickt hatte, den Hang hinunterzuklettern, sah, wie er sie hatte abhalten wollen. Hörte noch einmal, wie sie ihn anschrie, dass Avel vielleicht nur verletzt sei. Entsann sich der Hilflosigkeit, die ihn erfasst hatte. Es war seine Aufgabe, dort hinunterzuklettern, neben dem Blut in die Knie zu gehen und die Hand aufzulegen. Zu spüren, ob der Leib ausgekühlt war oder noch Wärme in sich trug. Es war seine Aufgabe zu fühlen, ob es noch einen Herzschlag gab, zu lauschen, ob der Atem ging oder stand. Zurückgeblieben war er mit seinem verfluchten Bein,
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