Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
mir, ich habe dich beobachtet, meine Gute. Auch du hast das bemerkt und findest ihn anziehend, selbst wenn du weiterhin versuchst, die Unnahbare zu spielen. Es ist widerlich, und selbst ein Blinder würde es erkennen.«
»Da ist nichts …«, sagte Bérénice kraftloser, als sie gehofft hatte. In Gedanken sah sie den Notar vor sich. Julien Lacante. Nein, er war kein blasser Jüngling mehr, und er war in ihren Augen auch kein Weichling. Vielmehr war Julien sanftmütig. Eine Eigenschaft, die Bérénice selten bei Männern entdecken konnte, aber eine, die sie ansprach. Anscheinend zu augenfällig ansprach. Vielleicht hatte sie die Schwester aber auch in der einen oder anderen Hinsicht bisher schlichtweg unterschätzt.
»Du bist sicher nicht die erste Frau, die sich einen jüngeren Liebhaber zulegt, aber er ist unter deiner Würde, ein Bürgerlicher, der Sohn eines gewöhnlichen Händlers. Aber eine Frau wie du …«, Francine ließ erneut ihren Blick über den schlammverdreckten Rock streifen, »weiß das sicher nicht.«
Bérénice schlug Francine mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Habe ich es doch gesagt«, lachte Francine auf und hielt ihr die andere Wange entgegen. »Hier ist noch eine. Schlag zu, zeig mir, dass ich richtig liege. Aber das ist noch nicht alles. Vielleicht solltest du den Brief doch lesen.« Sie trat beiseite und blickte auf das schmutzige Papier. »Denn dein Mann will erneut ein Anwesen verkaufen, und rate, welches das sein wird? Saint Millieux. Vielleicht hat er es auch schon verkauft, und schon wieder fehlt eine satte Einnahmequelle.«
Bérénice ging in die Knie, wobei ihr Herz erneut viel zu schnell schlug, und riss den Brief an sich. Wischte die Seiten glatt, fühlte den Dreck an ihren Fingern und begann zu lesen. »Der Brief war an mich gerichtet, nicht an dich. Was fällt dir ein, ihn zu öffnen?«
»Du siehst, meine Gute«, überging Francine den Vorwurf gleichgültig, »du wirst, wenn Amédé so weitermacht, nichts mehr besitzen, wenn er vor dir geht. Aber vielleicht hält dich ja dann der Weichling aus.«
Bérénice schwieg. Diesen Kampf hatte die Schwester für sich entschieden. Kein Wort, das sie jetzt erwiderte, würde an diesem Zustand etwas ändern.
Doch Francine ließ noch immer nicht von ihr ab. »Weißt du, was man vor gar nicht allzu langer Zeit mit solch untreuen Weibsstücken wie dir gemacht hat? So viel ich weiß, war es in Meißen, vielleicht auch in Münster, aber das ist egal. Jedenfalls zu weit weg von hier, leider, aber ich wünschte, dieses Gesetz würde auch bei uns gelten: Wenn ein Mann sein Weib, also eine wie dich, mit einem anderen erwischte, dann durfte er sie totschlagen. Und den Ehebrecher auch. Es war dem Gehörnten erlaubt, das gierige Paar aufeinanderzubinden, bevor er sie zum Galgen schaffte. Dort musste er eine Grube ausheben und sie mit Geäst füllen, jedes einzelne Zweiglein davon voller Dornen. Darauf legte er das Weib, mit dem Rücken voran. Im Anschluss daran warf er den Ehebrecher auf das Weib. Du kannst dir vorstellen, welche Qualen sie erlitt, falls sie noch lebte. Aber auch auf dem Mann wurden Dornenzweige ausgebreitet.«
Bérénice legte die Hände auf ihre Ohren und schloss die Augen.
»Was ist los mit dir? Willst du das Ende nicht hören? Es lohnt sich, hör zu: Ein Pfahl aus Eiche wurde durch beide hindurchgeschlagen. Und sollte es den Schändlichen noch immer nichtgelungen sein, ihren Verletzungen zu erliegen, dann mussten sie miterleben, wie das Grab zugeschaufelt wurde.« Francine beugte sich vor. »Also, wenn du dem Weichling schreiben solltest oder ihm gar erneut begegnest, dann grüße ihn doch recht herzlich von mir.«
Saint Mourelles
I hr werdet alle noch sehen, was ihr davon habt. Wenn ihr vor Gott tretet, werdet ihr euch verantworten müssen. Für den Tod meines Sohnes. Allesamt werdet ihr euch verantworten müssen«, keifte Blanche und sprengte mit einer von Kälte und Nässe geröteten Hand Weihwasser über Avels Grab.
»Das reicht. Hier bilden sich bald Weihwasserbäche, wenn du so weitermachst. Lass mich dich nach Hause bringen. Es ist zu kalt, um hierzubleiben«, sagte Catheline. Es war der dritte Tag in Folge, an dem Blanche an Avels Grab Weihwasser versprengte, das der Pfarrer eigens für sie gesegnet hatte, sich ins Gebet vertiefte und dann das Kreuzzeichen schlug. Doch die letzten beiden Male hatte sie im Anschluss laut fluchend und klagend am Grab gestanden, dass Pfarrer Jeunet um die Totenruhe gefürchtet
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