Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
die grausamen Bilder ihn des Nächtens überfielen. Träume, die mit einem Mann auf einem Pferd begannen, in denen Geschrei und Schwertschläge das Gehör betäubten und die Luft nach Schweiß und Blut stank.
Doch dieser Traum war neu und nicht weniger hartnäckig. Zum dritten Mal suchte er ihn binnen kürzester Zeit heim.
»Mathis, Mathis! Hörst du mich?«
Cathelines Gesicht war dicht vor seinem. Er spürte ihre Hände auf seinen Schultern, spürte, dass sie ihn schüttelte. Und begriff, dass es keine Nachtmahr war, dass sie wirklich vor ihm stand, dabei, ihn abzuholen, weil Avel verschwunden war.
Avel, das von Gott geliebte Kind.
Vor der Kirche hatten sie sich versammelt, und dieses Mal standen alle beisammen. Erneut schneite es, doch niemand schien die Kälte zu spüren.
Grete umklammerte Blanches Arm, um sie daran zu hindern, sich auf Eve zu stürzen. »Wenn ihm etwas zugestoßen ist«, brüllte Blanche so heftig, dass Spucke durch ihre Zahnlücke flog, »dann hast du das zu verantworten. Gnade dir Gott, und vor allem Gnade deinen Kindern.«
Der Pfarrer trat hinzu, gestützt auf seinen Gehstock, und legte ebenfalls die Hand auf Blanches Arm. »Sage nichts, wofür du dich später verantworten musst. Folgt mir lieber in die Kirche. Dort ist es zwar nicht wärmer, aber immerhin sind wir vor dem Schneetreiben geschützt.«
»Vater Jeunet, wir müssen Avel suchen. Er würde bei solchem Wetter das Haus nie verlassen, schon gar nicht momentan, wo böse Menschen unter uns nach seinem Leben trachten.«
»Blanche, niemand trachtet deinem Sohn nach dem Leben! Beruhige dich!«, entgegnete Grete streng und schüttelte den Kopf, dass ihre grauen Locken wippten.
Als Gabin die Luft einsog und ansetzen wollte, etwas zu erwidern, schlug Mathis ihm den Ellbogen in die Seite, sodass dieser von seinem Vorhaben abließ und sich unwirsch umsah.
Und wenig später wiederholte sich, worin sie in letzter Zeit bereits Übung bekommen hatten: Die Wartenden teilten sich in Suchgruppen ein. Erst haben wir Raymond gesucht und dann Rachel, und tatsächlich verbessern wir unsere Vorgehensweise, bemerkte Mathis und beobachtete Yann, der zwischen sich und Cécile, die vielleicht auch Camille hieß, ein Seil befestigte, damit ihm nicht auch noch dieses Kind im Dickicht des Waldes verloren ging.
»Ich habe eine Idee, wo Avel sein könnte. Er hat mir eine Höhle gezeigt, komm mit.« Ohne auf eine Antwort zu warten, griff Catheline Mathis’ Hand und zog ihn mit sich.
Schweigend folgte er ihr. Der Schnee war inzwischen an vielen Stellen verharscht, sodass er es ertrug, dass sie ihm Halt gab.
»Dabei habe ich gedacht, ich würde jeden Winkel der Umgebung kennen«, sagte Mathis, legte den Treibstecken in den Schnee und schob sich durch die Öffnung.
»Das habe ich auch gesagt«, stellte Catheline fest und drängte sich neben ihn. Das spärliche Licht ließ keinen Zweifel: Avel war nicht hier.
Enttäuscht verließen sie die Höhle. Was sollten sie hier auch noch weiter herumstehen?, fragte Mathis sich. Im Halbdunkel, so dicht beieinander, dass er ihre Körperwärme spüren konnte. Umgehend meldete sich die innere Leere, die ihn fortwährend begleitete, seit er sie von sich gewiesen hatte, besonders schmerzhaft.
Der Wind hatte aufgefrischt und zog kalt unter den Umhang, kaum dass Mathis auf der Lichtung stand. Ein wenig Kälte, die das erhitzte Gemüt kühlte und die Erinnerung an ihre Wärme mit sich nahm. Er trat beiseite und griff nach seinem Treibstecken.
Catheline schlüpfte aus dem Felsspalt und steuerte einem Schneehügel, der rechter Hand lag, entgegen.
Jetzt sah er, was sie hatte aufmerksam werden lassen: Fußspuren im Schnee. Ein wenig verweht, aber erkennbar führten sie den Hang hinauf.
Einzelne Fußspuren, sie stammen von jemandem, der allein unterwegs war, bemerkte Mathis. Es hat in den letzten beiden Tagen nicht geschneit. Die Spuren könnten älter sein, aber wir müssen ihnen folgen. Denn wer soll hier herumklettern? Im Sommer treibt Gabin die Schafe den Hang hinauf, aber im Winter?
Mathis beugte sich vor und besah sich die länglichen Vertiefungen. Sie sind recht groß, sie könnten zu Avel gehören, dachte er. Oder auch zu Raymond. Jedenfalls zu einem Mann. Rachel hat kleinere Füße. Mathis fiel auf, dass sie beide, Catheline und er, neben den Vertiefungen liefen, sie nicht zu berühren versuchten.
Catheline blieb stehen, bot ihm ihren Arm an, und gemeinsam erklommen sie den Kamm des Hanges. Blickten in die
Weitere Kostenlose Bücher