Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
Kleinkind, wirklich jeder, der sich an diesem Tag in Reims aufhielt, trug seine Festkleidung. Ein Farbenrausch, wie ich ihn selten erlebt habe.«
Der Baron schob mit entrücktem Blick den Teller von sich, als schiene es ihm unziemlich, beim Gedenken an diesen Tag sich den Leib vollzuschlagen. »Es gab keinen würdigeren Ort für die Krönung Karls als die Kathedrale der Engel in Reims«, hob er, im Tonfall einem Prediger gleich, erneut an. »In den Nischen über den Strebepfeilern wachte jeweils ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln, der schönste von ihnen war jedoch der lächelnde Engel. Diese steinernen Boten Gottes sahen auf uns herab, als König Karl in die Kathedrale Notre-Dame geleitet wurde. Die Bischöfe hatten ihn von seinem Prunkbett abgeholt, auf dem er angekleidet gelegen und auf den Beginn der Zeremonie gewartet hatte. Jetzt denkt ihr sicherlich, dass er auch in Prunkgewändern zur Krönung schritt. Weit gefehlt! Er hatte nur ein einfaches Gewand angelegt, sein Kopf war unbedeckt. Man führte ihn zur Kathedrale, und aus dem Kloster Saint-Rémy brachte man derweil das heilige Öl.«
Kurz blickte der Baron zu Mathis, dem die Wangen heiß wurden, weil er bemerkte, dass er mit offenem Mund gelauscht hatte. »Das heilige Öl, musst du wissen, wird nie weniger. Es ist seinerzeit von einem Engel direkt vom Himmel herniedergebracht worden zur Taufe Chlodwigs, die in einer Taufkapelle nahe der Kathedrale stattfand. Er war der erste christliche König Frankreichs, und an diesem weihevollen Ort erschien nun fast tausend Jahre später König Karl VII.«
Der Knappe, der inzwischen sein Kettenhemd abgelegt hatte und nach Schweiß stank, war dabei, Wein einzuschenken.Auch er lauschte ergriffen, auch sein Blick war nicht weniger entrückt als der des Barons. »Wie sieht er aus, unser König?«, fragte er.
Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel des Barons. »Er ist nicht gerade das, was man eindrucksvoll nennt. Unter seinen kleinen Augen deuten sich Tränensäcke an, seine Nase ist dick, und seine Lippen sind so groß, dass sie an den Schmollmund eines trotzigen Kindes erinnern. Die Krönung verlief schmucklos und schien zum König zu passen: Man strich ihm das Öl auf die Stirn, dann auf seine Brust und zum Schluss in seine Handinnenflächen. Daraufhin bekam er die Krone aufgesetzt.
Alles Schöne und Ergreifende ging jedoch von der Jungfrau Johanna aus. Sie stand, und das war gegen jedes Zeremoniell, neben Karl in ihrem silbernen Harnisch. Ihr hatte der Jubel in den Gassen gegolten, ihre Gegenwart war es, die jeden, der an der Krönung teilnahm, erkennen ließ, dass Gott anwesend war. Sie war es, die das Geschick Frankreichs gewendet hatte, ein einfaches Mädchen vom Land mit den Stimmen der Heiligen im Ohr. Die heilige Katharina, das hat die Jungfrau mir selbst erzählt, aber auch die heilige Margarete und der Erzengel Michael sprachen zu ihr, sie sorgten in Gottes Namen dafür, dass die Tochter eines Bauern der Welt zeigte, wer der wahre König Frankreichs ist. Die Jungfrau Johanna hielt während der Krönung die geheiligte Standarte, die unentwegt zitterte, so ergriffen war das Mädchen. Irgendwann sank sie weinend auf die Knie, direkt vor den König, und küsste seine Füße. Und ihr werdet keinen finden, der in diesem Augenblick zugegen war, der nicht spätestens jetzt zu Tränen gerührt war. Sie war der leibhaftig gewordene Engel in der Kathedrale.«
Pater Bertrand, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, erhob sich. »Lasst uns Unserem Herrn dafür danken, dass derBaron die Jungfrau Johanna auf ihrem Weg begleitet hat. Dass Er seinen Teil dazu beigetragen hat, die Krönung Karls zu ermöglichen.«
Bevor Mathis die Hände faltete, nahm er noch einen großen Schluck Wein. Berauscht von den Bildern, die der Baron in ihm entfacht hatte, schloss er die Augen und betete. Vergaß darüber den Hauptmann, der seinen grimmigen Blick kaum von ihm genommen hatte, vergaß darüber seine Unsicherheit, weil er nicht an diesen Tisch gehörte, und versank in dem tröstlichen Gefühl, dass Gott Frankreich seine Gnade erwiesen hatte.
Mit der Schnelligkeit eines Großbrandes jagte das Gerücht durchs Schloss, dass Mathis am Tisch des Barons saß. Der Knappe, der das Essen in der Küche abholte, wisperte es Ania zu, die es sofort Jola und Émelie erzählte.
Doch Zeit, sich zu wundern, blieb nicht, denn der Küchenmeister erschien, setzte sich an den Tisch und schlug sein hölzernes Buch auf. Die beiden Innenseiten
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