Sehnsucht
weichen. Er sank zitternd zu Boden, lehnte seinen Kopf gegen die kühle Wand und schloss die Augen.
***
Es dauerte fast eine Stunde, bis er den Mut fasste, nach unten zu gehen. Während er zusammengekauert auf dem geknüpften Teppich vor den Flügeltüren seines Raum gesessen hatte, begann der Schrecken seines Traums und der darauf folgenden Begegnung mit Bo zu verblassen. Langsam sah er die Situation klarer.
Er hatte keine Wohnung und keinen Job mehr in Marietta. Nicht, dass er es wirklich vermisste. Er hatte einen Job, den er jetzt schon liebte, mit Menschen, deren Gesellschaft er genoss. Bo hatte recht, sie verdienten eine Chance. Vielleicht konnte er mit der Zeit sogar über das hinwegkommen, was er für Bo empfand. Ein Teil von ihm wusste, dass das nicht in allzu naher Zukunft passieren würde. Aber wenigstens konnte er seine Gefühle verstecken.
Alles, was er tun musste, war, die gleichmütige Maske aufzusetzen, die er die meiste Zeit seines Lebens getragen hatte. Die, von der er geglaubt hatte, dass er sie nicht mehr brauchte.
Dann könnte er wieder mit Bo zusammenarbeiten, als wäre zwischen ihnen nie etwas gewesen. Er weigerte sich, auf den Teil von ihm zu hören, der nicht daran glaubte.
Sam duschte und zog sich frische Kleidung an, bevor er nach unten ging. Seine Kollegen mochten vielleicht kein Problem damit haben, dass er ihnen seine sexuelle Orientierung vorenthalten hatte, aber er vermutete, dass sie ihn nicht zerknittert, mit roten Augen und unrasiert mit Spermaflecken auf der Hose sehen wollten.
Als Sam die Bibliothek erreichte, saßen Andre und Cecile jeweils vor einem tragbaren Monitor und sahen unterschiedliche Videos an. David saß zusammengesunken auf einem Stuhl, hatte die Füße auf den Tisch gelegt und hörte eines der Audiobänder über Kopfhörer. Als Sam hereinkam, sah er auf und stoppte das Band.
»Hey, Sam. Eins der Audio-Tapes ist noch übrig. Haben wir extra für dich aufgehoben!«
Sam lächelte David zögerlich an und versuchte, dessen Laune abzuschätzen. Sein Grinsen war genauso breit wie immer, der Ausdruck in den blauen Augen ebenso warm wie sonst.
»Kein Problem«, sagte Sam und er entspannte sich ein wenig. »Kopfhörer?«
David deutete auf die Ausrüstungstasche aus Stoff, die auf dem Sofa lag. Sam zog ein Paar Kopfhörer aus der Tasche, steckte sie in den Audiorekorder und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
Andre sah zu ihm herüber, nickte lächelnd und widmete sich dann wieder seinem Video. Cecile winkte ihm zu, ohne von ihrem Monitor aufzusehen. Ein breites Lächeln erschien auf Sams Gesicht, als er das Gerät einschaltete.
Es war genau so, wie Bo es vorausgesagt hatte. Sie wussten nicht nur darüber Bescheid, dass er schwul war, sondern auch über seine Gefühle für Bo, und es machte keinen Unterschied. Er hatte noch nie in seinem Leben eine so tiefe Erleichterung empfunden.
Sam hatte das Band erwischt, das er und Amy am vorigen Tag aufgezeichnet hatten. Pflichtbewusst hörte er sich die nächste Stunde lang Amys Fragen und das Scharren ihrer Füße auf dem schmutzigen Boden an. Ansonsten war nichts drauf.
Als es zu Ende gelaufen war, schaltete er den Rekorder aus, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte sich ausgiebig.
»Müde?«, fragte David.
»Mm-hm.« Sam gähnte.
»Verdammt. Ich hatte den absolut furchtbarsten Traum meines Lebens, bevor ich heute Morgen aufgewacht bin.«
»Ja?« Andre setzte die Kopfhörer ab und nahm das Video aus dem Rekorder. »Cecile und ich haben auch wieder geträumt.«
»War schlimmer als je zuvor.« Cecile fügte ihr Band dem Stapel von gesichtetem Material hinzu und zog ihre Beine unter den Körper. »Ich weiß nicht, wie lang ich das noch durchhalte. Diese Träume machen mich echt fertig.«
»Da bist du nicht die Einzige«, sagte Andre düster. Er drehte den Kopf und sah Sam neugierig an.
»Wie war deiner von heute Morgen, Sam? War es sowas wie eine Fortsetzung der anderen?«
»Mehr oder weniger, ja«, wich Sam aus. »Wie war's bei euch?«
Andre und Cecile sahen einander an.
»Bei uns auch«, antwortete Cecile. »Der größte Unterschied war, dass wir dieses Mal gesehen haben, wie Mitglieder unserer Gruppe zerfetzt wurden, wir ihnen aber nicht helfen konnten.«
»Fliehen konnten wir auch nicht«, fügte Andre hinzu. »Ich hab das mit dem bewussten Träumen versucht, seit Cecile es erwähnt hat. Letzte Nacht hab ich das erste Mal gemerkt, dass ich träume, und versucht, herauszukommen. Und tatsächlich
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