Sehnsucht der Unschuldigen
Gelegenheiten eine Rolle. Bur ns hat sich von einem Psychiater ein Verhaltensprofil erstellen lassen. Wir suchen einen psychisch Gestörten, der Frauen haßt vor allem solche mit einem leichten Lebenswandel – und der die Opfer alle gut genug kannte, um sich auch allein mit ihnen zu treffen.«
Burkes Cornflakes waren inzwischen vollkommen durchweicht. Er schaufelte ein paar Löffel in sich hinein, weniger aus Appetit als eher einer Art Pflichtgefühl folgend.
»Bei Darleen stehen wir vor einem Rätsel«, fuhr er fort.
»Vielleicht ist er ihr auf der Straße nur rein zufällig begegnet.
Dann wäre der Mord aus einem Impuls heraus geschehen. Zufall und Impuls passen aber überhaupt nicht zum Verhaltensprofil.«
Eine gute Minute fiel kein Wort mehr. Tucker mußte sich das alles durch den Kopf gehen lassen. Sie hatten also ein Koordinatensystem mit Verhaltensmustern, aber die Anschlüsse paßten noch nicht ganz. »Können wir noch mal auf das zurückkommen, was der Psychiater gesagt hat?« bat er schließlich. »Ihr sucht also jemanden mit einem gestörten Verhältnis zu Frauen – weil er seine Mutter haßt, oder weil irgendeine Frau ihn hat sitzenlassen, richtig?«
»Genau.«
»Vor Darleen hattet ihr auf Austin getippt.«
»Er hätte ins Schema gepaßt. Und nachdem er mit dem Messer auf Caroline losgegangen war, waren wir sogar felsenfest davon überzeugt.«
»Aber Austin hätte schon von den Toten wiederauferstehen müssen, um Darleen zu ermorden. Sag mal, was hältst du eigentlich von erblich bedingten Anlagen? Könnten solche Verhaltensmuster auf irgendwelche Gene zurückzuführen sein?«
»Jeder, der Kinder hat, macht sich über so was Gedanken.
Und jeder, der Eltern hat, wohl auch, würde ich sagen.« Burke schob sein Frühstück endgültig beiseite. »Ich habe jahrelang darüber gegrübelt, ob ich die falschen Entscheidungen meines Vaters auf meine Weise wiederholt habe und mich auch in alle möglichen Ecken habe drängen lassen, in die ich nie wollte.«
»Das tut mir leid, Burke. Ich hätte erst denken und dann fragen sollen.«
»Mach dir keine Vorwürfe. Das Ganze liegt ja schon eine kleine Ewigkeit zurück. Ich kümmere mich jetzt lieber um die Gegenwart und um meine Kinder. Mein Jüngster zum Beispiel ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Mir wird richtig unheimlich, wenn ich alte Fotografien von mir in dem Alter sehe.«
»Vernon schlägt ja auch ganz nach seinem Daddy«, sinnierte Tucker. »Das kann tiefer gehen als nur die Augenfarbe oder die Form der Nase. Es kann auch die ganze Persönlichkeit, die Gesten und Gewohnheiten betreffen. Ich setze mich damit seit einiger Zeit auseinander, weil es in meiner Familie ja auch so ist.« Tucker zögerte, denn er schnitt ein Thema an, das er normalerweise mit niemandem diskutierte, selbst mit Burke nicht. »Weißt du, Dwayne hat ja dieselben schlimmen Gewohnheiten, die unserem Daddy das Leben gekostet haben.
Vielleicht neigt er nicht ganz so zur Gewalttätigkeit, aber die Anlagen stecken in ihm. Und wenn ich in den Spiegel schaue oder Josies oder Dwaynes Gesichter sehe, erkenne ich unsere Mutter wieder. Sie lebt in uns weiter, Burke. Sie liebte doch Bücher und Gedichte – genau wie ich. Ich hatte keine große Wahl. Es ist einfach in mir drin.«
»Das will ich gar nicht bestreiten. Marvella wirft zum Beispiel den Kopf auf dieselbe Weise zurück wie ihre Mutter.
Von Susie hat sie auch den Dickschädel, dieses ›Das wäre ja gelacht, wenn ihr nicht nach meiner Pfeife tanzt!‹ Wir reichen unsere Anlagen eben weiter, die guten wie die schlechten.«
»Worauf ich hinaus will: Vernon springt auch nicht sanfter mit seiner Frau um als Austin mit Mavis.«
»Wie kommst du darauf, Tucker?«
»Hast du von der Szene auf dem Jahrmarkt gestern gehört?«
»Daß Cy seinem großen Bruder die Nase blutig geschlagen hat? Marvella und Bobby Lee haben es gesehen. Sie waren alles andere als empört.«
»Vernon ist nicht sehr beliebt im Ort. Sein Vater war es genausowenig. Sie haben dieselbe Visage, Burke. Und vor allem denselben Blick. Ich muß bei den zweien immer an ein Bild denken. Es ist aus einer Kinderbibel, die mir meine Mutter einmal geschenkt hat. Ich weiß nicht mehr, welcher Prophet dargestellt wurde, Jesaja oder Hesekiel oder so. Er ist jedenfalls für vierzig Tage zum Fasten in die Wüste gegangen und dort dem Herrn begegnet. Danach hat er irgendwas von verschiedenen Zungen gepredigt. Das Bild zeigte ihn bei seiner Rückkehr. Er hat denselben
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