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Sehnsucht der Unschuldigen

Sehnsucht der Unschuldigen

Titel: Sehnsucht der Unschuldigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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Blutergüsse sie wieder einmal vor dem Satan gerettet hatten, erzählte sie den Nachbarn, daß sie die Treppe hinuntergefallen war. Selbst dem Sheriff tischte sie diese Geschichte mit einem verängstigten Lächeln auf.
    Egal, wie brutal er sie knüppelte und mit Fausthieben traktierte, seine Mutter blieb auf der Seite ihres Mannes. Schon deswegen konnte Cy sie nicht in seinen Plan einweihen.
    Vor sich erblickte er die Abzweigung zum Grundstück der McNairs. Eine Meile noch, dann hatte er es geschafft. Seine Fußsohlen brannten inzwischen, und die Zunge klebte ihm am Gaumen.
    Durch die morgendliche Stille drang ein fröhliches Singen zu ihm herüber – Jims Daddy, der bei der Neuen, Miss Waverly, eine Anstellung gefunden hatte. Sein Freund Jim hatte ihm das gesagt.
    Und noch etwas hatte Jim ihm erzählt: Sein Daddy hatte ihn im ganzen Leben noch nie geschlagen. Und wenn er die zwei gemeinsam zum Angeln gehen sah, dann glaubte er ihm das auch aufs Wort.
    Es wäre ein Leichtes gewesen, hinüberzugehen und Toby um ein Glas Wasser zu bitten. Er hätte seine blitzenden Zähne zu einem freundlichen Grinsen entblößt und ihm sofort etwas angeboten. »Schau mal, wer gekommen ist, Jim!« hätte er gerufen. »Sieht ganz so aus, als ob dein Freund uns beim Streichen helfen wollte! Klar, danach wartet auch’n prima Mittagessen auf ihn.«
    Nur zu gerne hätte Cy den Weg zu Miss Ediths Haus eingeschlagen! Fast lenkten ihn seine Füße automatisch dorthin, doch er blieb wie angewurzelt stehen.
    Meine Söhne treiben sich nicht mit Niggern rum!
donnerte Austins Stimme in ihm.
Wenn der Herr gewollt hätte, daß wir mit ihnen verkehren, hätte er sie als Weiße erschaffen!
    Aber nicht nur deswegen ließ Cy den Umweg bleiben – oft genug hatte er sich ja heimlich mit Jim getroffen – nein, er wußte, daß er die letzte Meile nach Sweetwater nicht mehr schaffen würde, wenn er jetzt mit Jim und seinem Vater Fenster strich und Tomatensandwichs aß.
    So marschierte er weiter, obwohl ihm das Hemd am Leib klebte und ihm schlecht war vor Hunger und Erschöpfung.
    Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen.
    Sweetwater hatte Cy bislang erst zweimal gesehen. Manchmal meinte er, er habe sich das alles nur eingebildet – die hohen weißen Mauern, den großzügigen Rasen, den herrlichen Garten.
    Aber jetzt, da es in der flimmernden Luft vor ihm auftauchte, begriff er, daß die Wirklichkeit seine Phantasien bei weitem übertraf.
    Ehrfürchtig ging Cy die Kiesauffahrt hinunter, vorbei an den duftenden Blumenbeeten, in denen sein Vater, wie er geprahlt hatte, Tucker grün und blau geschlagen hatte.
    Cy hoffte, Miss Delia würde ihm aufmachen. Er mochte die rothaarige Hausbedienstete, die immer bunten Schmuck trug, sehr gern. Einmal hatte sie ihn für einen halben Dollar ihre Einkaufstasche tragen lassen. Dabei hatte sie so runde, kräftige Arme, daß der Weg zum Auto ein Kinderspiel für sie gewesen wäre.
    Ja, wenn sie aufmachte, würde sie ihn bestimmt in die Küche bitten und ihm als erstes ein Glas Limonade und vielleicht einen Keks anbieten. Und er würde sich artig bedanken und sich nach Lucius Gunn, dem Aufseher auf Sweetwater, erkundigen.
    Schwankend und etwas benommen stand er vor der massiven Tür mit dem blitzblank poliertn Messingklopfer. Hastig benetzte er sich die ausgetrockneten Lippen, dann hob er die Hand.
    Die Tür sprang auf, noch ehe er den Klopfer berühren konnte.
    Vor ihm stand nicht Miss Delia, sondern eine kleine, ältere Dame mit orange bemalten Lippen und einer Adlerfeder im Haar. Daß die Steine, die von ihren Ohren herabbaumelten, echte Diamanten waren, konnte Cy nicht wissen.
    Und daß sie ihn mit gellendem Kriegsgeheul empfangen würde, hatte Cy auch nicht ahnen können.
    Erschrocken wich er zurück. »Ich… ich… ich…« stammelte er nur.
    »Du darfst den armen Jungen doch nicht so erschrecken, Tante Lulu!« rief Tucker und näherte sich mit einem freundlichen Grinsen, das langsam erstarb, als er Cy Hatinger erkannte. »Was kann ich für dich tun, Cy?«
    »Ich… ich wollte wegen Arbeit nachfragen«, brachte der Junge hervor und kippte ohnmächtig um.
    Etwas rann, als Cy erwachte, an seiner Schläfe herunter.
    Einen entsetzlichen Augenblick lang hielt er es für Blut. Er versuchte sich mühsam aufzurichten. »Ganz ruhig, mein Junge.«
    Er erkannte Delias Stimme. In seiner Erleichterung wäre Cy fast wieder in seine Ohnmacht abgedriftet, doch Delia hielt ihn mit ein paar leichten Klapsen auf die Wange wach,

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