Sehnsucht FC Bayern
übermütig zugleich ist? Man macht Unsinn. So auch wir. Die sportliche Herausforderung des Abends lautete: Wie schließe ich ein Bahnhof-Schließfach ohne vorherigen Münzeinwurf? Um es gleich vorweg zu sagen – mit etwas Gewalt geht das. Aber es tut an den Händen ziemlich weh. Dumm war nur, dass wir von den Kameras der Bahnpolizei dabei beobachtet wurden. Es gab mächtig Ärger! Ein Polizisten-Trio mit Schäferhund kann auf einen 18-Jährigen schon recht furchteinflößend wirken. Nach Feststellung der Personalien durften wir aber dennoch um zwei Uhr unseren Zug besteigen. Wahrscheinlich war die Mannheimer Polizei auch einfach nur froh, uns endlich los zu sein. Uns saß der Schreck bis Köln in den Gliedern.
Um Punkt sieben Uhr morgens war ich wieder zu Hause. Auf der Treppe lag die Zeitung mit Bericht und Fotos vom Spiel. Das sind Momente, die regen zum Nachdenken über die Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns und des frisch Erlebten an. Ich hatte jedenfalls meine Lehren gezogen. Als Erinnerung aus dieser Nacht blieben mir zwei Souvenirs. Zum einen die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen mich, welches aber nach günstig formulierter Beschuldigtenanhörung wegen Geringfügigkeit stillschweigend eingestellt wurde. Das andere Souvenir hatte ich längst wieder vergessen; es tauchte Wochen später überraschend in meinem Rucksack auf: der Schlüssel von Schließfach Nr. 526 aus dem Hauptbahnhof Mannheim! Den habe ich heute noch. Stolz bin ich darauf nicht.
Wie sehr die damalige Fernsehlandschaft vom aufkommenden Privatfernsehen gekennzeichnet war, zeigten die Live-Übertragungen von Sat.1. Ein Sender, den wir zu Hause noch nicht empfangen konnten. Ein echtes Ärgernis, das mich wurmte und mir keine Ruhe ließ. Anders als bei Niederlagen kann ich mich an Fernsehbildern von siegreichen Bayern-Spielen durchaus mehrfach ergötzen. Das Viertelfinale im DFB-Pokal gegen den 1. FC Kaiserlautern wäre so ein Spiel gewesen – wenn es nicht von Sat.1 übertragen worden wäre. Nach vielen Jahren blieb der FC Bayern auf dem Betzenberg mal wieder siegreich. Und mit 3:0 war es tatsächlich auch ein äußerst klares Ergebnis.
Am nächsten Morgen in der Schule schwärmte ein Mitschüler von dem rasanten Spiel. Sein Vater hätte es sogar auf Video aufge nommen, und wenn ich wollte, dann könne ich es mir auch ausleihen. Es ist an dieser Stelle fast überflüssig zu erwähnen, dass wir jedoch zu Hause über keinen Videorekorder verfügten. Was tun? Da half nur ein Leihgerät aus einer der vielen, damals wie Pilze aus dem Boden schießenden Videotheken. Rückblickend betrachtet ist es mir heute ein absolutes Rätsel, welchen Aufwand ich betrieben habe. Die Vorstellung jedoch, auf Knopfdruck und unabhängig von der Tageszeit mir einfach mal zwischendurch ein Bayern-Spiel anzuschauen, war viel zu reizvoll. Für umgerechnet 200 Euro Kaution überließ mir die Videothek für 24 Stunden einen Rekorder, den ich dann auf dem Fahrrad (!) erwartungsfroh mit nach Hause nahm. Dabei konnte ich noch von Glück sprechen, dass Kassette und Gerät beide VHS-Format hatten, denn seinerzeit – wer erinnert sich? – waren auch noch Formate wie Betamax und Video 2000 üblich. Mit Cola-Flasche und Chips wurde dann der Nachmittag zelebriert.
In der Bundesliga ging die Saison dem Ende entgegen. Der Showdown zwischen Bremen und Bayern spitzte sich am 33. Spieltag zu. Werder Bremen stand seit dem 2. Spieltag fast ausnahmslos an der Tabellenspitze und hätte mit einem Heimsieg über den FC Bayern nach 31 Jahren zum zweiten Mal überhaupt einen Titel gewinnen können. Es war Dienstagabend. Sat.1 entschloss sich kurzfristig zu seiner ersten Live-Übertragung aus der Bundesliga. Mit dem nachträglichen Ausleihen eines Videorekorders war es jetzt natürlich nicht mehr getan. Auch in Bergisch Gladbach witterten einige Gaststätten unverhofften Umsatz. Sie luden zum »public viewing«, als es den Begriff noch gar nicht gab und man sich beim Gedanken an »Fernsehfußball in der Kneipe« eher an die Bilder der Weltmeisterschaft 1954 erinnert fühlte. So voll wie beim »Wunder von Bern« war die Kneipe zwar nicht, aber zumindest so gut besucht, dass wir froh waren, noch einen einigermaßen guten Platz bekommen zu haben. Die Sympathie der Gäste galt ausnahmslos den Hanseaten, die in jener Saison einen wirklich guten Fußball geboten hatten und die Jahre zuvor zweimal nur Vizemeister wurden.
Ich weiß noch, wie ich mich während der Übertragung des
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