Sehnsucht FC Bayern
gemauerte Wand war Sichtschutz und Urin-Auffangfläche in einem. Ich bin kein Botaniker. Und umso erstaunter war ich über den üppigen Moosbewuchs auf der regelmäßig befeuchteten Rückseite. Reisen erweitert den Horizont – auch an solchen Orten!
Den eigenen Erfahrungshorizont im Europapokal zu erweitern, dazu bekam ich in dieser Saison leider keine Gelegenheit mehr. Eine stürmische Herbstwoche schüttelte den Verein regelrecht durcheinander. Die 1:2-Heimspiel-Niederlage in der 2. Runde des UEFA-Cups gegen Norwich City bildete nur den Anfang. Im Rückspiel reichte das 1:1 natürlich nicht zum Weiterkommen in diesem Wettbewerb. Entsprechend gefrustet fuhr ich zusammen mit Joachim, meinem Jugendfreund und Club-Fan aus Pubertätszeiten, zum Auswärtsspiel nach Nürnberg. Der FCN nutzte die Gunst der Stunde und schoss den FC Bayern mit 2:0 aus dem Frankenstadion. Ganz Nürnberg stand kopf. Auch das Club-Präsidium, das in der allgemeinen Orientierungslosigkeit und entgegen allen Trends am nächsten Tag Trainer Willi Entenmann feuerte. Joachim las die sich anbahnenden Gerüchte in der Bild am Sonntag, die er an einer Tankstelle kaufte und augenblicklich aufschlug, woraufhin er sich in dem Artikel geistig verlor und gedankenversunken fast ins falsche Auto gestiegen wäre. So hatte jeder von uns sein Päckchen zu tragen. Ich haderte mit dem Fünf-Punkte-Rückstand auf Tabellenführer Eintracht Frankfurt und er mit einem verlustig gegangenen Cheftrainer.
Viel Zeit zum Hadern blieb mir jedoch nicht, denn drei Tage später stand im Pokal schon das Achtelfinale gegen Dynamo Dresden an. Die Fahrt in die sächsische Hauptstadt erfolgte dabei unvorsichtigerweise mit dem Auto eines Techno-Freaks aus dem Fanclub. Vor Ort suchte ich daher nicht nur aus kulturellem Interesse die wohltuende Stille der Gemäldegalerie Alter Meister im Dresdner Zwinger auf. Kontrast muss sein. Im Rudolf-Harbig-Stadion wurde es nämlich an diesem Abend anschließend noch laut genug. Der 2:1-Siegtreffer der Sachsen aus der 90. Minute begleitete mich noch die ganze Nacht auf den 600 Kilometern zurück nach Köln. So etwas kriegt man nur schwer wieder aus dem Ohr.
In Winter war die Geduld der Vereinsführung erschöpft. Trotz aktuellem Tabellenplatz zwei übernahm Vize-Präsident Franz Beckenbauer auch noch den Job des Trainers. Ein einmaliger Vorgang. Hatte ich mich viele Seiten zuvor schon am Beispiel Beckenbauer darüber ausgelassen, dass bestimmte Namen für mich selbstredend zum FC Bayern dazugehören, so wirkte die Eigen-Inthronisierung des Kaisers, bei allen gegenteiligen Beteuerungen seinerseits, wie ein »Hallo-Wach«. Ich gebe zu, ich war elektrisiert. Fortan sog ich alle nur denkbaren Informationen aus München auf.
Ein kurzfristig angesetztes Testspiel beim VfL Bochum, die erste Begegnung unter seiner Regie, kam mir da gerade recht. Ein Vorverkauf war zeitlich nicht möglich, und so war ich entsprechend früh am Stadion. Diese Partie stellte für mich gleich in zweifacher Hinsicht eine Premiere dar. Nicht dass jetzt der Eindruck entsteht, ich hätte an Pissoir-Geschichten Gefallen gefunden, aber ich hatte auf der Herrentoilette unterhalb der Haupttribüne des Ruhrstadions insofern eine Begegnung der für mich irritierenden Art, als dass ich die Örtlichkeit nicht mehr für mich allein hatte, sondern plötzlich mit Uli Hoeneß teilte. Er betrat den Raum, nickte flüchtig, stellte sich drei Meter neben mich, tat das, wozu auch ich hier war, und verschwand anschließend im Waschraum. Ich war perplex. Musste es denn wirklich sein, dass unsere erste Begegnung an einem so dermaßen unwürdigen Ort stattfand? Meiner Achtung ihm gegenüber wurde das nun wirklich nicht gerecht. Ein Zusammentreffen mit dem personifizierten FC Bayern, meinem Idol seit 1979, dem Vereinsgewissen auf zwei Beinen – jeder andere Anlass, jeder andere Ort wäre passender gewesen. Für einen strenggläubigen Katholiken wäre das in etwa so, als wenn er den Papst bei McDonald’s getroffen hätte. Man kann es sich im Leben nicht immer aussuchen.
Die andere Premiere des Nachmittags spielte sich zum Glück nicht auf der Toilette ab. Nach seinerzeit exakt 123 Bayern-Pflichtspielen war diese Begegnung nämlich das erste Freundschaftsspiel für mich. Unverhofft lernte ich zu schätzen, was es heißt, einem Bayern-Spiel völlig entspannt zuzuschauen und sich ohne Erwartungsund Erfolgsdruck ganz dem schönen Spiel hinzugeben. An dieser Haltung hat sich bis heute, trotz aller
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