Sehnsucht FC Bayern
Köln. Da war mir samstags kein Weg zu weit. Das war immer noch sinnvoller, als permanent auf Videotext-Tafeln zu stieren oder gar Spielzüge im Schneegestöber verschlüsselter Premiere-Bilder zu identifizieren. Ich kenne einige ernst zu nehmende Bayern-Fans, die diese Varianten bis heute vorziehen. Das »Lätare« verfügte immerhin über eine Leinwand. Und mit zwei Cola kam man dort die 90 Minuten sogar recht billig über die Runden. Der Name der Kneipe ist lateinisch und bedeutet »Freue dich!«. Das tat ich dort auch regelmäßig, denn die Rückrunde bot Anlass genug dazu.
Mit diesem ungewöhnlichen Trainer an der Seitenlinie konnte die Saison eigentlich nicht gewöhnlich zu Ende gehen. Das tat sie auch nicht. Zum besseren Verständnis der Dramatik muss ganz kurz auf die damalige Konstellation eingegangen werden: Der FC Bayern hatte sich mit Beginn der Rückrunde zielstrebig dem Titelgewinn genähert. Dicht verfolgt wurde er dabei vom 1. FC Kaiserslautern. Dieses bayerisch-pfälzische Duell nahm an Brisanz deutlich zu, als der FCB am 31. Spieltag mit 0:4 auf dem Betzenberg unterging. Nun, am darauffolgenden Spieltag galt es gegen den Viertletzten der Tabelle, 1. FC Nürnberg, den knappen Zwei-Punkte- Vorsprung auszubauen. Ein Sieg war Pflicht, zumal Kaiserslautern am Vorabend in Wattenscheid gewonnen hatte.
Ich war mit einigen Fanclub-Mitgliedern im Kleinbus nach München gefahren und wurde Zeuge einer der meistgezeigten Szenen im deutschen Fernsehen für die nächsten Wochen. Ein Eckball der Bayern landete vor den Füßen von Thomas Helmer. Dieser stand jedoch rücklings zum leeren, gegnerischen Gehäuse und stocherte den Ball mit der Wade ins Aus. Dies dachten zumindest alle. Plötzlich rief meine Sitznachbarin: »Der Schiri gibt Tor!!!!!« Alles fing an zu jubeln, aber keiner wusste so richtig, warum. Was war geschehen? Der Linienrichter hatte den Ball, durch die Sonne geblendet, irrtümlich im Tor gesehen. Er signalisierte sofort einen Treffer an Schiedsrichter Hans- Jürgen Osmers.
Ausgerechnet Helmer erhöhte in der 66. Minute auf 2:0. Übrigens völlig regelgerecht. Etwas weniger regelgerecht, weil in Abseitsposition, verkürzte in der 80. Minute Alain Sutter auf 1:2. Ein schon sicher geglaubter Sieg geriet völlig ins Wanken, als der FCN nur eine Minute später einen Elfmeter zugesprochen bekam. Ex-Bayernspieler Manfred Schwabl fühlte sich sicher und schickte sogar den zur Ausführung heraneilenden Andreas Köpke zurück in sein Tor. Schwabl verschoss. Endstand 2:1 für Bayern.
Den ganzen Abend gab es natürlich auch bei uns nur ein Thema – das Phantomtor. Wir übernachteten in einem Hotel am Stachus und schoben den Beginn der abendlichen Unternehmungen zunächst einmal nach hinten. Sportschau und Tagesschau waren wichtiger. Es war DAS Thema schlechthin. Heute gäbe es wahrscheinlich einen ARD-Brennpunkt. Beim FCB hatte man nur kurze Freude am Sieg. Zu laut war der öffentliche Missmut über das Zustandekommen des doppelten Punktgewinns. Wie zu erwarten war, legte der 1. FC Nürnberg zur Wahrung der Frist bereits am Sonntag Protest gegen die Wertung des Spiels ein. Die Führung des FC Bayern stellte daraufhin umgehend klar, dass man mit einem Wiederholungsspiel einverstanden sei. Manager Hoeneß setzte noch einen drauf: »Wir beugen uns jedem Urteil.«
Auf der sonntäglichen Heimfahrt zurück nach Köln verfolgten wir im Radio ohne Unterlass das Dauerthema des Tages. Da fährt man quer durch die Republik und ahnt, dass das soeben Erlebte Makulatur werden könnte. Sehr merkwürdig. Andererseits waren wir auf eine gewisse Weise auch stolz, bei diesem fußballhistorischen Moment dabei gewesen zu sein. Und was es nicht alles zu beachten gab: Wer erhält die Einnahmen eines Wiederholungsspiels? Wie werten die Toto-Gesellschaften das Spiel? Was ist der Unterscheid zwischen einer Tatsachenentscheidung und einer fehlerhaften Wahrnehmung des Schiedsrichters? Die FIFA mischte sich ebenso ein wie andere Vereine und auch Friedel Rausch, der Trainer des Konkurrenten aus Kaiserslautern. Er legte die Mitleidsplatte auf: »Ganz Deutschland steht hinter uns!«
Da die beiden letzten Spieltage parallel ausgetragen werden mussten, konnte das Wiederholungsspiel nur zwischen dem 33. und 34. Spieltag stattfinden. Für den FC Bayern hatte sich die Situation mittlerweile verschlechtert. Dank der besseren Tordifferenz waren die Pfälzer mit einem Spiel mehr mittlerweile auf Platz eins der Tabelle. Ich gebe zu, dass ich
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