Sehnsucht nach dem Maerchenprinzen
den Verstand verlieren. Wenn nicht, würde der Verlust ihres angebeteten Sohns ihr Leben für immer verändern. Sie würde den Anblick des Todesflusses nicht mehr ertragen und Mann und Tochter verlassen.
Natürlich musste auch die Schuldfrage geklärt werden. Charlotte ahnte bereits, wer für die Tragödie zu büÃen hätte: Rohan. Nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Prescotts und andere Bewohner von Silver Valley würden die Gelegenheit ergreifen, um sich dafür zu rächen, dass Rohan hübscher und klüger als ihre eigenen Söhne war. Ihm würde man nachsagen, er hätte den armen Matthew Marsdon ertrinken lassen.
Keiner würde einsehen, wie ungerecht es war, einen vierzehnjährigen Jungen so zu belasten. In den Augen der anderen war er jetzt ein Verbrecher. Ein Verbrecher, den keine Schuld traf.
Gegenwart. Gartenparty
Rohan Costello war also dorthin zurückgekehrt, wo sich die Katastrophe seiner Kindheit ereignet hatte. Damit bewies er Mut und machte zudem klar, dass der klügste Junge von Silver Valley es zu etwas gebracht hatte.
Durch Matthew Marsdons tragischen Tod waren er und Charlotte sich damals noch nähergekommen. Irgendwann hatten sie die unsichtbare Grenze überschritten, aber das war niemals bekannt geworden. Der eine oder andere mochte es vermutet haben, ohne es beweisen zu können. Man wusste nur, dass die Tragödie sie nicht auseinandergebracht hatte, obwohl Charlottes Eltern â vor allem ihre Mutter â nur noch Hass gegenüber dem Jungen empfanden, den sie bis dahin gefördert hatten.
Für die Costellos war nur ein Weg offen geblieben: das Tal zu verlassen. Die Schuldzuweisung der Bewohner von Silver Valley hatte zu schwer auf ihnen gelastet. Wie hart und ungerecht die Menschen sein konnten!
Jetzt rätselten sie, ob Rohan zurückgekommen war, um alte Rechnungen zu begleichen. Plötzlich wurde die Vergangenheit wieder lebendig. Nichts war für immer vergessen.
Charlottes Ohnmacht währte nur wenige Sekunden, aber der Schock hielt an, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Sie lag im Wohnzimmer auf einer Chaiselongue. Ihre Frisur hatte sich gelöst, und sie trug auch keinen Hut mehr und auch nicht die teuren Sandaletten, wie sie benommen feststellte.
Rohan stand am Kopf- und Christopher am FuÃende der gepolsterten Liege. Diane Rodgers und zwei alte Freundinnen von Charlottes Mutter warteten etwas entfernt. Von ihrem Vater war nichts zu sehen, aber George Morrissey, der Hausarzt, betrat gerade das Zimmer.
âCharlie ⦠um Himmels willen!â, rief er und eilte auf sie zu. Charlotte war immer sein Liebling gewesen. âWas ist los mit dir?â Er nahm ihren Arm und fühlte den Puls. Als das Ergebnis beruhigend ausfiel, richtete er sie vorsichtig auf, während Rohan ihr einige Kissen in den Rücken schob.
âDie Hitze, Georgeâ, erklärte sie. Rohan anzusehen, wagte sie nicht. Am liebsten hätte sie ihren kleinen Sohn genommen und wäre mit ihm geflohen. Doch es gab kein Entkommen, jedenfalls nicht in diesem Augenblick. âOffenbar bin ich nicht mehr in Form.â
âVon wegen!â, protestierte der Doktor.
âMummy?â Christophers Gesicht war käseweiÃ. âGeht es dir wieder gut?â
âAber ja, Schatzâ, versicherte sie und streckte die Hand aus. âKomm her.â Sie gab sich groÃe Mühe, ganz normal zu sprechen. âIch liebe dich, Chris.â
âIch dich auch.â Er umklammerte ihre Hand und sah Charlotte ängstlich an. âDu bist noch nie ohnmächtig geworden.â
âDas ist vorbei. Mir war nur etwas schwindlig.â Sie zog ihn neben sich auf die Chaiselongue, legte den Arm um ihn und drückte die Lippen in sein blondes Haar. âIch stehe gleich wieder auf.â
âLassen Sie sich Zeitâ, mahnte Dr. Morrissey, erleichtert, dass Charlottes Gesicht wieder Farbe annahm. Der Schock, dachte er. Es war der Schock. Unglaublich, was aus dem jungen Costello geworden ist ⦠und auch wieder nicht. Rohan war immer ein hellwacher Bursche.
Er streckte ihm die Hand entgegen. âDas war eine Ãberraschung mit unerwarteten Folgen.â
Rohan ergriff die Hand, ohne dem Doktor die Worte übel zu nehmen. Willkommen zu Hause in Silver Valley, konnte er kaum sagen!
âEs freut mich, Sie wiederzusehen, Dr. Morrisseyâ, antwortete er gelassen. âSie waren immer freundlich zu meiner
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