Sehnsucht nach Leben
sagen zu können: âIch gebe alle meine Ãmter auf.â Es war für mich eine Frage der eigenen Würde und der eigenen Freiheit. Und am Ende habe ich es so empfunden, dass mir der Mut schlicht geschenkt wurde, die Konfrontation mit all den Kameras, all der Häme und all dem Spott und all der Hysterie und Selbstgerechtigkeit zu wagen. Und ich bin Gott dankbar für diesen Mut. Aus mir selbst kam er sicher nicht, dazu war ich viel zu schwach. Aber gewünscht und erbeten habe ich ihn mir. Und ich habe ihn gespürt.
Sehnsucht nach
KRAFT
Zwei Männer in den Fünfzigern. Ich erlebe sie extrem unterschiedlich. Der eine erschien mir immer kraftstrotzend, dominant, ein echtes Alphatier. Er ist überzeugter Christ, tief verwurzelt in seinem Glauben. Und dann kam ein Tag, da lieà er schlicht die Flügel hängen. Keiner in der Abteilung konnte sich das vorstellen. Alle sagen: âDer doch nicht!â Die Ehefrau war völlig verzweifelt, weil er tagelang auf dem Sofa saà und schlicht nichts tat. Seine Kraft war am Ende. Er war völlig ausgelaugt. Der Rhythmus von Schaffen und Ruhen war ihm verloren gegangen. Burn-out. Keine Tablette und kein gutes Zureden konnten daran etwas ändern. Ein Mann am Ende seiner Kraft und konfrontiert mit Unverständnis von allen Seiten. Wie gehen wir jetzt mit ihm um? Das passt nicht in die Planungen! Was soll nun werden? Viele mussten erst begreifen, dass es ein langer Prozess sein könnte, bis er die innere Lebensbalance wiederfinden würde.
Ein anderer Mann. Er würde sich wohl eher als Agnostiker denn als Christ bezeichnen. Interessiert ist er an vielem, weniger auf der Ãberholspur, aber immer in aller Ruhe den eigenen Weg gegangen. Plötzlich brechen Katastrophen in sein Leben ein: die Wirtschaftskrise, eine Scheidung, die Kündigung, Gericht, Prozess, Pfändung stehen ins Haus. Er könnte im sprichwörtlichen Sinne wahrhaftig die Hände in den Schoà legen und sagen: âNichts geht mehr.â Er wird verklagt, er ist überschuldet, jeden Monat fragt er sich, ob es irgendwie weitergehen wird. Dieser Mann nun findet die Kraft. Er geht gegen alle Widerstände an, Schritt für Schritt, er will eine Perspektive finden, er kämpft.
Zwei Männer. Beide mit sehr unterschiedlicher Kraft. Kraft ist keine Muskelfrage. Wenn wir Sehnsucht nach Kraft haben, dann befinden wir uns ja in einer Situation, in der wir uns überfordert fühlen. Es fällt uns schwer zu sagen: âIch habe keine Kraft mehrâ, das klingt so nach Versagen. In meinem Leben bin ich allzu oft über solche Punkte hinweggegangen. Meistens dachte ich: Reià dich zusammen. Die Kinder brauchten mich, die beruflichen Anforderungen waren hoch, es gab schlicht keinen Raum dafür, kraftlos zu sein. Heute weià ich: Es ist wichtig, auch einmal innezuhalten. Du musst deine Kraftquellen immer wieder auftanken. Und so habe ich versucht, sie in meinen Alltag einzubauen: Bei einem Abend mit einer Freundin im Wellnesscenter kann meine Seele Kraft schöpfen. Ein Lauf um den Maschsee in Hannover am frühen Morgen kann für den ganzen Tag stärken. Eine Zeit der Stille in einer Kirche, und sei sie nur kurz, ist eine heilsame Unterbrechung.
Ich denke, jeder Mensch muss für sich selbst herausfinden, wo die eigenen Kraftquellen liegen. Für viele werden diese im Glauben zu finden sein. Der christliche Glaube kann und will uns Kraft und Halt geben. Am Ende des Vaterunsers heiÃt es: âDenn dein ist die Kraft.â Das finde ich ungeheuer ermutigend und bete es oft ganz bewusst. Wo meine Kraft nicht reicht, da gibt es Gottes Kraft, die mich tragen kann. Aus Gottes Kraft kann ich leben, wenn meine eigenen Kräfte nicht mehr reichen. Du, Gott, gibst mir Kraft, darum kann ich auch bitten. Und ich darf auf Kraft warten wie auf ein Geschenk. Doch wie am Eingangsbeispiel zu sehen ist, trägt die christliche Ãberzeugung allein nicht einfach so durchs Leben. Wir sind zunächst einmal selbst für unser Leben verantwortlich und müssen die Konsequenzen tragen, wenn wir uns selbst überfordern, wenn wir nicht rechtzeitig auf Signale von Körper und Seele achten, uns ungesund verhalten. Hier ist allgemeine Lebensweisheit gefragt, die nicht nur Glaubenden zur Verfügung steht, sondern allen Menschen.
Kraft ist manches Mal auch schlicht Bestandteil der Lebenshaltung eines Menschen. Sie wird nicht vererbt, aber anerzogen. Der
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