Sehnsucht nach Leben
bevormunden zu lassen. Sicher, Christinnen und Christen wollen das Leben verantworten: vor sich, vor anderen Menschen und vor Gott. Doch sie werden sich nicht einschränken und einschüchtern lassen durch angeblich unhinterfragbare Gegebenheiten, wenn sie den eigenen Glaubensüberzeugungen widersprechen. Eine solche Freiheit ist nur da begrenzt, wo sie auf die Freiheit des anderen trifft, und sie ist gesteuert von der Liebe â der Dreifaltigkeit der Liebe zu Gott, zu mir selbst und zu anderen Menschen, so wie es das Gebot der Nächstenliebe beschreibt. Es ist eine Freiheit, die Jesus dazu ermutigt hat, am Sabbat zu heilen, bei einem Zöllner zu essen und mit Frauen zu sprechen. Eine Freiheit, die von innen kommt und nach auÃen gelebt wird.
Ich denke zum Beispiel an einen Menschen, der mitten im Leben steht, ein vor Energie, Lebensfreude und scheinbar vor Gesundheit strotzender Mann mit Familie und vielen Lebensplänen, der dann erfahren muss, dass er an Krebs erkrankt ist. Er hat â für viele überraschend â die Krankheit angenommen, ist mit Würde seinen letzten Weg gegangen. Er hat sich verabschiedet und das Leben zurückgegeben in Gottes Hand. Gerade als er schwach war, war er ganz besonders stark. Und frei.
Für eine solche innere Freiheit steht das Kreuz! Gottes vermeintliche Schwäche, ja, Gottes scheinbare Ohnmacht angesichts von Gewalt und Zerstörung von Leben erweist sich langfristig als stärker als alle menschlichen Kategorien von Erfolg und Leistungsdenken. Wer das glauben darf, dessen Leben verändert sich radikal. Und zwar nicht hin zu Leid und Traurigkeit, sondern hin zu Lebensfreude und Lebenslust, weil ein solcher Mensch im tiefsten Inneren frei wird. Frei vom Urteil anderer. Frei von Erfolgskategorien dieser Welt. Frei davon, mit dem eigenen Leben oder Lebensstil Bedeutung erlangen zu müssen. Solche Freiheit kann enorme Stärke bedeuten.
Eine solche Haltung der Freiheit kann aber auch für die Gewalt- und Machtstrukturen der Welt gefährlich werden, die Menschenliebe und Gerechtigkeit mit Gesetz und Gewalt unterdrücken. Wie sagte Martin Luther King am 28. August 1963: âLasst den Ruf der Freiheit erschallen! Und wenn das geschieht und wir das tun, dann wird der Tag schneller kommen, an dem Schwarze und WeiÃe, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken einander die Hände reichen und in den Worten des alten Spirituals singen können: ,Endlich frei! Danke, allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!ââ [11] Seit ich diese Passage 1974 auf einem Tonband zum ersten Mal im Original gehört habe, hat sie mich beeindruckt. Da stellt sich Martin Luther King in der Tat in eine Reihe mit den Freiheitsgedanken des Paulus und seines groÃen deutschen Namensgebers. Alle drei Männer waren nicht perfekt, und sie haben auch nicht vorgegeben, fehlerlos zu sein. Aber sie besaÃen eine über Jahrhunderte und Jahrtausende ausstrahlende Fähigkeit, überzeugend von der Freiheit der Kinder Gottes zu reden. Frei zu sein, weil Gott mir Freiheit schenkt, ganz gleich, was mich fesselt, das ist Gnade.
Ohnmacht und Schwäche können offenbar zu Stärke führen, zu einer inneren Freiheit, die die Welt bewegt. So entsteht Entscheidungsfreiheit, die stärker ist als vorgegebene Meinung, Ideologie, Religion. Das ist das Zeugnis des Kreuzes. Der sterbende Mann am Kreuz hat mehr verändert als all die Armeen der Welt. Der Gefolterte wird zum Symbol der Freiheit. Einer Freiheit, die der Tod nicht schrecken kann, weil er nicht das letzte Wort hat. In diesem Sinne sind Christinnen und Christen âfree at lastâ â wirklich und wahrhaftig frei, auch von dieser letzten und wohl gröÃten Angst jedes Menschen, der Angst vor dem Tod. Das ist die Freiheit, die der Apostel Paulus meint, wenn er schreibt: âZur Freiheit hat uns Christus befreitâ (Galater 5,1), oder wenn er der Gemeinde in Korinth deutlich macht: âWo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheitâ (2. Korinther 3,17).
Martin Luther entdeckte diese âFreiheit eines Christenmenschenâ auf der Suche danach, wie er ein vor Gott zu rechtfertigendes Leben führen könnte. Sein für mich schönster Satz dazu lautet: âEin Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.â Das zeigt die ganze
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