Sehnsucht nach Leben
Muttersein kann eine Frau an die Grenzen ihrer Kraft bringen. Das lässt sich durch kein gutes Zureden und kein politisches oder pädagogisches Programm wegreden. Das muss schlicht wahr- und angenommen werden, damit es um reale Möglichkeiten geht, wie Freiräume zu schaffen sind. Eine junge Frau, die eine zweijährige Tochter und neugeborene Zwillinge hat, schrieb mir kürzlich, sie sei völlig am Ende, finde überhaupt keine Kraft mehr, zu lesen oder zu schreiben, ja, auch nur fernzusehen. âWie hast du das damals gemacht? Woher kam die Kraft?â, fragte sie mich. Ja, ich kann ihre Empfindungen ganz gut nachvollziehen. Als junge Mutter hatte ich oft das Gefühl, meine Kraft reiche nicht, sosehr ich meine Kinder auch liebe. Aber ich habe Kraft niemals so sehr als eigene Leistung betrachtet, sondern viel mehr als Geschenk. âDein ist die Kraft ...â
Ich bewundere die Kraft von Menschen, die lernen müssen, mit einer Behinderung zu leben, und trotzdem nicht verzagen. Die Kraft von Menschen in Flüchtlingslagern hat mich beeindruckt. Es ist keine Lösung in Sicht und dennoch ziehen sie Kinder groÃ. Oft habe ich mich gefragt, ob ich so viel Kraft hätte!
Viele der Menschen, die keine Kraft mehr haben, wissen nicht ein noch aus. Ich denke an den Nationaltorwart Robert Enke. Mit all seiner Kraft hat er gegen seine Depression angekämpft. Seine Frau hat ihm beigestanden, so gut sie konnte. Aber am Ende nahm er sich das Leben. Die Kraft reichte nicht. Viele Menschen waren zutiefst erschüttert. Ein nach auÃen so strahlender, erfolgreicher, beliebter, ja, kraftstrotzender, sportlicher Mann, und hinter dieser Fassade kam nun jemand zum Vorschein, der auch Schwäche kannte und um die dunklen Seiten des Lebens wusste. Einer, der nicht mehr weiterkonnte und Angst davor hatte, das öffentlich zuzugeben. Das hat viele irritiert, überrascht, ja, geradezu erschüttert.
Sicher, Kraft ist bewundernswert. So ein junger Mann voller Kraft und Tatendrang ist imponierend. Eine Kanzlerin, die die Kraft hat, tagein, tagaus zu arbeiten, zu entscheiden, Konflikte zu lösen, vor Kameras zu treten, zu reisen und zu lächeln, als mache ihr der Jetlag gar nichts aus â das ist beeindruckend. Wir bewundern âkraft-volleâ Menschen, denn wir alle sehnen uns danach, es zu schaffen, alles zu bewältigen.
Wenn Menschen sich aber ständig selbst überfordern, kommen sie irgendwann an den Punkt, an dem sie die Kraft verlieren. Und es ist nicht leicht mit anzusehen, wenn der Vater, der stets eine so imposante Figur war, alt wird, kraftlos. Und es ist nicht leicht, sich selbst zu ertragen, wenn dieses Gefühl einsetzt: âIch kann nicht mehr. Meine Familie, all die Aufgaben, Anforderungen, das tägliche Schaffen und Tun: Es soll einmal still sein um mich herum, damit ich mich selbst wiederfinde.â Oder: âIch drehe mich im beruflichen Hamsterrad. Ständig laufe ich einer Notwendigkeit nach der anderen hinterher. Ich weià nicht mehr, wann Alltag ist und wann Sonntag, ich habe den Rhythmus verloren.â
Es ist wichtig, diese Signale wahrzunehmen. Vielleicht muss ich in einer solchen Situation meine Kraftlosigkeit erst einmal annehmen. Und wenn ich trotz der Kraftquellen, die Teil meines Alltags sind, nicht in der Lage bin, neue Kraft zu schöpfen, muss ich vielleicht einsehen, dass etwas grundsätzlich schiefläuft in meinem Leben. An diesem Punkt gilt es zu fragen, ob wir denn wirklich so leben müssen. Ob wir öfter Nein sagen sollten. Ob es möglich ist, Verantwortung abzugeben, oder ob wir vielleicht sogar den Mut brauchen, ganz grundsätzlich etwas zu ändern.
Es geht also darum, den Rhythmus des Lebens, die Balance zwischen Schaffen und Ruhen nicht zu verlieren. Die Kraftquellen in unserem Leben wollen bewusst gestärkt werden. Und wenn wir kraftlos sind, gilt es, dieses Gefühl zuzulassen und einmal zu betrachten, was uns die Lebenskraft raubt.
Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott uns Lebenskraft geben will und kann. Wir können den Glauben natürlich im alltäglichen Lebensvollzug als Quelle der Inspiration, der Freude, der Ermutigung und Kraft sehen. Und ich habe oft erlebt: Gerade wenn wir keine Kraft mehr haben, dürfen wir uns fallen lassen â in Gottes Hand. Wir dürfen es wagen, wir dürfen uns und anderen zugestehen, dass wir kraftlos sind, und werden dennoch den Lebenssinn nicht verlieren.
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