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Sehnsucht nach Leben

Sehnsucht nach Leben

Titel: Sehnsucht nach Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Kaeßmann
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Sehnsucht nach Kraft und Mut zum Eingeständnis der eigenen Kraftlosigkeit gehören zusammen.
Sehnsucht nach
FREIHEIT

    Ich erinnere mich an eine Dienstbesprechung mit meinen Mitarbeiterinnen in der Zeit, als ich Bischöfin und Ratsvorsitzende gleichzeitig war. Wir hatten einen Stapel von Terminanfragen und versuchten, den Anforderungen und Bitten um Gespräche oder Vorträge oder Predigten gerecht zu werden sowie die notwendigen Sitzungstermine und Synoden einzuplanen. Nach zwei Stunden war ich völlig erschöpft. Die Sonntage des Folgejahrs waren allesamt bereits verplant, und es schien überhaupt keine Möglichkeit mehr zu geben, vor dem Oktober des nächsten Jahres einen freien Termin zu finden. Mich hat das richtig deprimiert: Wie kann es sein, dass dein Leben derart verplant ist und du keinerlei Chance mehr siehst, etwas Spontanes zu tun?
    Dazu kam ein großer Druck: Was darfst du in dieser Situation an persönlicher Meinung von dir geben? Du sprichst ja schließlich auch im Namen der Kirche, du wirst als Amtsperson angesehen. Da wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, und Journalisten warten nur darauf, ob du eine Nuance abweichst von den offiziellen Texten. Das wird dann sofort gedeutet, der Kritik ausgesetzt. Und das geht hin bis zu deiner Kleidung, die durchgehend beurteilt wird.
    Kurzum: In diesem Moment verspürte ich eine unendliche Sehnsucht nach Freiheit. Ich wünschte mir, einfach einmal tun und sagen und anziehen zu können, was ich wollte, und das unabhängig von irgendwelchen Terminen und von der Meinung und Erwartung anderer. Denn das macht uns ja auch oft unfrei: Andere brauchen uns, erwarten etwas, wir haben Verpflichtungen und sind verantwortlich. Sosehr wir andere auch lieben, so wichtig uns unsere Lebensinhalte und unsere berufliche Verantwortung auch sind – sie schränken unsere Freiheit ein.
    Gewiss, die Freiheit, von der die Haltung Jesu spricht, die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“, über die der Apostel Paulus lehrt, und die Freiheit eines Christenmenschen, die Martin Luther entdeckt hat, das ist nicht die Freiheit vom Terminkalender. Es ist die Freiheit, dein eigenes Leben allein in Verantwortung vor Gott zu leben. Gott nicht zu einem Automaten zu machen, der aufgrund von gutem oder moralisch abgesegnetem Verhalten dein Leben gutheißt. Christliche Freiheit ist eine, die weiß: Gottes Liebe ist es zuallererst, die meinem Leben Sinn und Halt gibt. Und meine Freiheit ist, die Liebe zu Gott über Normen der Gesellschaft zu stellen.
    Jesus war ein „Anwalt der menschlichen Freiheit“, schreibt Gotthold Hasenhüttl [10] . Er ist der katholische Geistliche, der vom Priesteramt suspendiert und dem die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen wurde, nachdem er auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003 gemeinsames Abendmahl zelebriert hatte. Und er erinnert an Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“, in dem der Großinquisitor Jesus nahelegt zu verschwinden. Die Kirche habe den Menschen durch Gehorsamsforderung geholfen, denn vor der Freiheit hätten sie letzten Endes Angst. Es geht um die Freiheit, selbstständig zu denken, sich nicht durch vorgegebene Normen und Regeln anderer begrenzen zu lassen, die Freiheit, Neues zu wagen.
    Jesus hat solche revolutionäre Freiheit vorgelebt, die Menschen empfinden können, die sich ganz und gar Gott anvertrauen. Eine derartige innere Freiheit ist immer gefährlich für Systeme und Ideologien, ja, auch für Religionen, die auf nicht hinterfragbaren Gehorsam setzen. Auf besonders irritierende Weise habe ich das in einem russischen Kloster erlebt: Du sollst nicht fragen, dein Leben entwerfen, selbstständig denken. Nein, der Abt und die Kirche wissen, was richtig ist für dich, was du liest, wo du arbeitest, was du betest. Freies Denken ist in einem solchen Kontext eine Form von Widerstand und Religion erscheint repressiv. Wie es leider allzu oft der Fall ist: Wenn etwa Religionsbehörden im Iran die Kleidung der Frauen überprüfen – was hat das mit Religion zu tun? Das ist pure Unterdrückung! Religion ist nicht mit einer Moralinstitution zu verwechseln! Martin Luther hat das sehr deutlich gemacht: Wir sind zuallererst frei, weil Gott uns liebt. Wir können unser Leben nicht durch gutes Verhalten, das Beachten von vermeintlich religiösen Gesetzen oder Geld für Ablasshandel irgendwie „richtig“ machen. Nein, das ist

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