Sehnsucht nach Leben
Spannungskraft christlicher Freiheit. Sie ist Freiheit von Gesetzlichkeiten, die nicht hinterfragt gelten wollen, die keine Diskussion zulassen, die Autorität beanspruchen, indem sie autoritär sind. Und es ist die Freiheit zu etwas: zum eigenen Denken. Zur eigenen Rede mit Gott. Zum Engagement für eine bessere Welt.
Eine solche Freiheit ist eine Lebenshaltung. Sie kommt aus dem Glauben heraus, von innen her. Eine solche Freiheit haben Christinnen und Christen in der DDR an den Tag gelegt, als sie zu ihrem Glauben standen, obwohl es ihnen schwer gemacht wurde. Wie bitter waren da Entscheidungen: Lässt du dich konfirmieren, wirst du wohl keinen Studienplatz bekommen. Bleibst du in der Kirche aktiv, ist ein Aufstieg am Arbeitsplatz ausgeschlossen. Aber sie besaÃen und gewannen zunehmend die innere Freiheit, offen über Missstände zu sprechen. Und dann eine groÃartige Erfahrung: Mit expliziter Gewaltfreiheit wurde Freiheit möglich! Vielen klingt aus jenen Jahren des Mauerfalls noch das Lied von Marius Müller-Westernhagen im Ohr: âFreiheit ...â Fast gebrüllt haben es die Menschen bei den Konzerten. Freiheit. Die Sehnsucht nach Freiheit kann Menschen einen ungeheuren Mut und groÃe Kraft schenken. Ich denke an die vielen, die mit ihrer Sehnsucht nach Freiheit auf den Flughäfen Europas landen. Ein deutscher Innenminister hat einmal gesagt, sie wollten lediglich in die deutschen Sozialsysteme einwandern. Diese Worte empfinde ich als ungeheuer abfällig.
Auf den Reisen nach Afrika, die ich mit dem Ãkumenischen Rat der Kirchen erleben durfte, habe ich diese Sehnsucht nach Freiheit bei Menschen gespürt, die ohne Angst leben wollen â in Simbabwe, in Südafrika, in Ãthiopien. Im Süden der USA sind in einer Kirche Luftlöcher im HolzfuÃboden zu sehen. Darunter wurden früher Sklaven versteckt und mit Wasser und Brot versorgt, die auf dem Weg nach Norden waren, in die Freiheit. Diese Sehnsucht nach Freiheit konnten wir auch bei einem Besuch in Nordkorea erleben, wo alle Bereiche des Lebens reglementiert werden: wo du wohnst oder arbeitest, wie viel Essen zugeteilt wird, alles, bis hin zur Kleidung. Und ständig wird jeder Mensch überwacht. Alles steht unter dem Verdacht des Verrats. Als unser Bus wegen Getriebeschadens die Autobahn, auf der nur wir unterwegs waren, verlassen und auf einer LandstraÃe weiterfahren musste, drehten alle Fahrradfahrenden sofort ab. Sie hatten Angst, Probleme zu bekommen, wenn sie mit Ausländern in Kontakt kämen. Ein solches Leben ist entsetzlich unfrei.
Deshalb gilt es, aus innerer Glaubensfreiheit für die Freiheit anderer einzutreten. Dazu gehört auch, für die Glaubensfreiheit anderer einzustehen. Und dafür gibt es wichtige Vorbilder. Ich denke an Roger Williams, der als âVater des amerikanischen Baptismusâ im 17. Jahrhundert klar und entschieden für Religionsfreiheit eintrat. Obwohl er überzeugt war, dass die christliche Religion der einzige Weg zum Heil sei, trat er dennoch entschlossen dafür ein, dass andere ihre Ãberzeugungen leben durften. In jener Zeit gab es massive Verfolgung religiös Abtrünniger durch die Pilgerväter. Wer nicht mit ihren Glaubensüberzeugungen übereinstimmte, wurde gefoltert und exekutiert. Williams vertrat zwar ebenfalls klare christliche Ãberzeugungen, aber er hielt es für eine grundsätzliche christliche Haltung, die anderen anzuhören, zu respektieren und den Dialog zu wagen.
Williams könnte ein Vorbild für all diejenigen werden, die einen Ausgleich zwischen den Religionen suchen. Er würde heute wahrscheinlich sagen: âIch sterbe für die Freiheit muslimischer Bürgerinnen und Bürger, ihre Moschee zu bauen, und werde dennoch mein ganzes Leben lang versuchen, sie davon zu überzeugen, dass das Christentum der wahre Weg zur Erlösung ist.â [12]
Warum sollte das nicht auch heute möglich sein? Der Pastor des Dove World Outreach Center in Gainesville, Florida, wollte am 11. September 2010 den Koran öffentlich verbrennen. Ein Signal sollte es sein gegen den Bau des muslimischen Kulturzentrums mit Moschee in New York. Bücher verbrennen und die Gotteshäuser einer anderen Religion anzünden â in Deutschland haben solche Nachrichten einen besonderen Klang. In der Nazidiktatur wurde deutlich, dass das Verbrennen von Büchern und die Zerstörung von Gotteshäusern nur der Anfang
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