Sehnsucht nach Owitambe
errichtete er sich schließlich im Schutz eines kleinen Felsvorsprungs eine Art Zelt. Unterdessen waren Decken ausgeteilt worden. Es waren viel zu wenige für so viele Menschen. Außerdem waren sie verlaust und starrten vor Dreck. Nancy hatte Fritz eine mitorganisiert. Er gab sie allerdings sofort weiter, als er einer Hererofrau über den Weg lief, die sich eine Decke mit ihren zwei kleinen, hustenden Kindern teilen sollte. In der nächsten Nacht bereute er seine Großzügigkeit, als er zähneklappernd in seiner Behausung fror.
Am nächsten Morgen erst wurden ihnen die ersten Lebensmittel
zugeteilt. Einige der Internierten wurden unter Bewachung zu den Lagerhäusern geschickt, um Säcke mit Maismehl und Bohnen zu holen. Dazu gab es Feuerholz, ein paar Gusseisentöpfe und Blechschüsseln, die sowohl für das Trinken als auch für das Essen gedacht waren. Einige Metallfässer enthielten brackiges Wasser. Sofort machten sich die Frauen ans Kochen. Fritz wunderte sich, wie geordnet es dabei zuging. Er hatte damit gerechnet, dass nun ein Kampf um die Lebensmittel ausbrechen würde. Doch ganz einvernehmlich entstanden Gruppen, die Essgemeinschaften bildeten. Als das Essen fertig war, rief Nancy ihn zu ihrer Gruppe.
»Es ist fürchterlich«, entschuldigte sie sich. Sie überreichte ihm einen gefüllten Blechnapf. »Das Mehl ist wurmig und alt, die Bohnen nass und verfault.«
»Auf Owitambe werden wir wieder fürstlich speisen.«
Er setzte ein schiefes Grinsen auf, das Nancy dankbar erwiderte. Beide glaubten nicht mehr recht an eine glückliche Heimkehr. Wie es wohl Jella und dem Baby ging? Fritz’ Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wie gern hätte er seine Frau noch einmal gesehen. Er hatte ihr versprochen, zur Geburt zu Hause zu sein. Jetzt war das Kind schon bald ein Jahr alt.
»Los aufstehen, antreten zum Morgenappell!«, donnerte die Stimme des Unteroffiziers Hofleitner. Sie riss Fritz aus seinen düsteren Gedanken. Ein paar Soldaten liefen durchs Lager und trieben die Neuankömmlinge wie Vieh zusammen. Diejenigen, die schon länger im Lager waren, stellten sich in geordneten Gruppen auf. Der bayrische Unteroffizier erklärte den Neuen, was sie erwartete.
»Damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt, werdet ihr arbeiten«, ließ er durch einen Dolmetscher erklären. »Es gibt das Projekt Wellenbrecher, das Projekt Mole, das Projekt Gleisbau und das Projekt Kirche. Arbeiten tun alle, die laufen können.«
Einzelne Soldaten musterten der Reihe nach die Menschen
und teilten sie zu den Arbeiten ein. Fassungslos verfolgte Fritz, wie sie auch alte Männer, Frauen und Kinder über fünf Jahren einteilten.
»Du da«, Hofleitner deutete auf ihn. »Du kommst mit mir. Du kannst in der Mannschaftsküche arbeiten.«
Fritz richtete sich auf. Er wollte auf keinen Fall bevorzugt behandelt werden.
»Das ist Weiberarbeit«, meinte er verächtlich. »Teilen Sie mich lieber in die Projektarbeit ein.« Er wusste, dass es Hofleitner nur gut mit ihm meinte. Er bot ihm eine leichtere Arbeit an, die ihm das Leben im Konzentrationslager erleichtern würde. Es fiel ihm schwer, das auszuschlagen, aber auf der anderen Seite würde er seine freie Zeit weiterhin im Lager verbringen müssen. Schon jetzt war seine Stellung als Weißer unter den Herero schwierig. Besonders die früheren Anführer waren ihm nicht unbedingt freundlich gesinnt. Wenn er jetzt eine Sonderbehandlung erfuhr, dann würden sie ihn das später im Lager spüren lassen.
Der Unteroffizier runzelte erstaunt die Stirn.
»Bist du narrisch?«, fragte er auf Deutsch. »Die Arbeit übersteht keiner länger als ein paar Wochen.«
Fritz zuckte mit den Schultern. »Das ist mir egal.«
Hofleitner schüttelte den Kopf. »Schickt ihn in die Dünen. Mit der einen Hand kann er wenigstens Steine klopfen«, befahl er schließlich.
Unter strenger Bewachung wurden die Zwangsarbeiter den unterschiedlichen Projekten zugeführt. Kurz nach Sonnenaufgang ging es los. Fritz gehörte nun zu den Schienenbauern. Gemeinsam mit Hunderten anderer Arbeiter marschierten sie in die Dünen, um den Bau der neuen Bahnstrecke Lüderitz–Keetmanshoop voranzutreiben. Für die Errichtung der Bahndämme waren Sprengungsarbeiten nötig. Fritz war zum Klopfen von
Steinen eingeteilt, die Frauen und Kinder in Körbe füllten und dann zum Dammaufschütten trugen. Die Lasten waren für die Kinder und Frauen viel zu schwer. Immer wieder brach jemand unter seiner Last zusammen. Blieben die Menschen zu lange
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