Sehnsucht nach Owitambe
liegen, kam einer der aufsichthabenden Soldaten und peitschte mit aller Kraft so lange auf sie ein, bis sie sich wieder erhoben. Die Aufseher machten keine Unterschiede. Kinder wurden genauso bestraft wie ihre Eltern und Großeltern. Nicht selten kam es vor, dass die Geschundenen für immer liegen blieben. Die Schinderei ging den ganzen Tag bis kurz vor Sonnenuntergang. Außer einer kurzen Mittagspause, in der sie eine wässrige Suppe zu essen bekamen, schufteten sie ohne Unterbrechung. Am ersten Abend war Fritz so erschöpft, dass er sich nach dem kärglichen Mahl nur noch in seinen Unterschlupf schleppte, um zu schlafen. Nancy hatte es noch schlimmer getroffen. Ihre Füße waren blau gefroren. Sie war dem Projekt Mole zugeteilt worden und musste im eiskalten Wasser stehend Steine schleppen. Nach wenigen Tagen schleppte sie sich nur noch hustend zur Arbeit. Die Leute im Lager starben wie die Fliegen. Durch die mangelhafte Ernährung litten die meisten Insassen an Skorbut. Auch Fritz hatte mittlerweile Zahnfleischbluten, obwohl es ihm im Vergleich zu vielen anderen noch ziemlich gut ging. Er verfügte über eine gute Konstitution, aber Nancy machte ihm zunehmend Sorgen. Ihre Haarwurzeln begannen bereits einzubluten, und sie litt an Durchfall und einer fiebrigen Infektion. Sie brauchte dringend etwas Ruhe. Fritz beschloss, sich an Unteroffizier Hofleitner zu wenden. Der Mann schien ein gutes Herz zu haben. Bei der nächsten Gelegenheit wandte er sich an einen der Aufseher und bat um eine Unterredung.
»Der Hofleitner wurde abkommandiert«, beschied man ihm unfreundlich. »Leutnant Schöndorf ist jetzt direkt für euch zuständig.«
»Dann melden Sie ihm, dass ich ihn sprechen möchte.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, brummte der Aufseher.
Doch Schöndorf ließ sich Zeit. Erst am übernächsten Tag nach der Arbeit führte man Fritz zu den Ziegelhäusern, wo auch die Kommandatur und das Gefängnis untergebracht waren.
»Sie wünschen?«, schnarrte der Leutnant. Seine dünnen Haare waren akkurat gescheitelt. Er musterte ihn aus wässrig blauen Augen. Fritz grüßte höflich und versuchte dann, dem Offizier die erbarmungswürdigen Zustände im Lager darzustellen. Schöndorf ließ ihn ausreden, während er gelangweilt den Dreck unter seinen Fingernägeln herauspulte.
»Ich möchte Sie bitten, wenigstens die Kranken, Frauen und Kinder von der Zwangsarbeit zu befreien«, beendete Fritz seine Ausführungen. Leutnant Schöndorf zog die Augenbraue hoch.
»Finden Sie Ihre Forderungen nicht sehr vermessen?«, fragte er schneidend. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich freiwillig auf die Arbeitskraft dieses Gesindels verzichte. Das Deutsche Reich braucht jede Hand!«
»Was nützt ihnen die Arbeitskraft, wenn die Menschen Ihnen wegsterben wie die Fliegen? Die Menschen brauchen eine bessere Versorgung. Ihnen fehlt Gemüse. Die Zähne fallen ihnen aus, und sie sterben alle an Skorbut. Das kann doch nicht Ihre Absicht sein! Ich appelliere an Ihr Mitgefühl!«
»Pah! Mitgefühl!« Schöndorf wedelte verächtlich mit der Hand.
»Was gehen mich diese Menschen an? Es sind Aufständische und noch dazu Neger. Sie haben sich gegen das Deutsche Reich gewandt und tragen jetzt ihre gerechte Strafe. Ob sie sterben oder nicht, wen kümmert es? Es kommen neue nach!«
Er sah ihn durchdringend an.
»Und was Sie betrifft, so rate ich Ihnen dringend, sich künftig um Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Schließlich sind Sie um keinen Deut besser als dieses Pack!«
Bevor Fritz etwas erwidern konnte, winkte er einen Soldaten herbei.
»Abführen!«
Fritz kam sich wie ein geprügelter Hund vor. Wut und Empörung machten sich in ihm breit. Am liebsten hätte er diesen arroganten Lackaffen an seiner blitzblanken Uniform gepackt und durchgeschüttelt. Doch damit war niemandem geholfen.
Eines Morgens war Nancy so geschwächt, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Sie blutete nun auch aus dem Mund, und Fritz erkannte, dass sie den Tag nicht überleben würde. Er spürte, wie sein Herz sich verkrampfte. In seinen Wunschträumen waren sie eines Tages gemeinsam nach Owitambe zurückgekehrt. Daraus würde nun nichts werden. Nancy hustete und erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Er bettete sie ein wenig bequemer. Seit es ihr so schlecht ging, hatte er sie zu sich in seine Unterkunft geholt. Ihre Nähe hatte ihn getröstet. Sie war der einzige Mensch im Lager, zu dem er Kontakt hatte. Die anderen Herero mieden ihn
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