Sehnsucht nach Owitambe
Mutter versuchte, starrte das kleine Baby verzückt an. Jella hob sie hoch, und sie quietschte vor Vergnügen. Die beiden Frauen lachten.
»Ich glaube, sie ist ganz verliebt in deinen Sohn«, behauptete Jella. Nakeshi stimmte ihr zu. Doch dann wurde sie ernst.
»Auf deinem Gesicht wohnen dunkle Wolken«, sagte sie. »Was bekümmert dich, Sternenschwester?«
Jella nickte bekümmert. Dann erzählte sie ihrer Freundin, was sie erfahren hatten.
»Alle wollen mich trösten«, meinte sie resigniert, »aber in Wirklichkeit können wir gar nichts tun.«
Nakeshi schüttelte unwillig den Kopf. »So spricht der Hase, wenn er vor der Schlange steht.«
Jella verstand nicht. Nakeshi half ihr auf die Sprünge.
»Geh an diesen traurigen Ort und hilf deinem Mann. Du bist nicht allein«, meinte sie, als sei es die selbstverständlichste Sache auf der Welt.
Die schwere körperliche Arbeit unter den unmenschlichen Bedingungen forderte ihren Tribut. Die Sprengungen und das Schlagen der Steine wirbelten meterhoch Sand und Staub auf. Die Zwangsarbeiter waren nicht nur gezwungen, in dieser Staubwolke zu arbeiten, sondern sie atmeten unentwegt die schädlichen Staubpartikel ein. Husten und chronische Atemnot waren die Folge. Es gab kaum einen unter den Gleisarbeitern, der nicht davon betroffen war. Wenn sich die Kolonne abends zurück ins Lager schleppte, waren die Menschen vom Staub
weiß gepudert. Aber es war nicht die Schinderei, die Fritz zunehmend zermürbte, es war das Elend im Lager, das ein menschenwürdiges Leben nahezu unmöglich machte. Die hygienischen Bedingungen waren grauenvoll. Das Trinkwasser war alt und brackig. Die rostigen Tonnen dienten gleichzeitig als Waschgelegenheiten; das Wasser war verunreinigt. Wegen des felsigen Untergrunds gab es kaum Latrinen. Die Lagerinsassen verrichteten ihre Notdurft anfangs zwar außerhalb des Lagers, doch bald war auch dazu kaum noch Platz, weil ständig neue Häftlinge hinzukamen. Der Geruch von Fäkalien, Schweiß und Krankheit überzog das Lager wie ein Todeshauch. Nancys Tod hatte Fritz verändert. Die Köchin war immer noch ein Anker für ihn gewesen, eine Verbindung in seine alte Welt. Sie hatte ihn ständig an seine Familie erinnert und ihm die Kraft gegeben, das ganze Leid zu ertragen. Die Erinnerung an Owitambe war wie eine Festung, die er rund um sich errichtet hatte. Nun, da sie nicht mehr da war, begann die Mauer zu bröckeln. Fritz’ Hoffnung auf Freiheit schwand; er flüchtete sich zunehmend in seine düsteren Stimmungen und ertrank in seiner Einsamkeit. Hilflos musste er mit ansehen, wie rings um ihn die Leute starben. Es gab zwar ein Feldlazarett auf der Insel, aber der zuständige Arzt war maßlos überfordert und außerdem ein Trunkenbold, der allenfalls sporadisch nach den Kranken im Lager sah. Trotz der täglichen Erschöpfung konnte Fritz nächtelang nicht schlafen, weil das Grauen des Sterbens ringsum ihn bis in den Schlaf verfolgte. Weinend kauerte er sich in seinem Unterschlupf zusammen und wartete darauf, dass ein neuer unbarmherziger Tag anbrach. Seine Sinne begannen sich langsam zu trüben.
Bald wusste er nicht einmal mehr, wie lange sein Martyrium schon andauerte. Die Herero hatten Fritz mittlerweile als einen der ihren akzeptiert – wenn man angesichts der Gleichgültigkeit, die sich unter ihnen breitgemacht hatte, überhaupt
von »akzeptieren« sprechen konnte. Im Prinzip war jeder mit seinem eigenen Überlebenskampf beschäftigt.
Vielleicht hätte Fritz sich ganz aufgegeben, wenn er nicht Kido, einen etwa siebenjährigen Namajungen, kennengelernt hätte. Der Kleine arbeitete seit einiger Zeit in seiner Nähe. Er musste die Steine, die Fritz klein schlug, in einen Korb legen und auf den Eisenbahndamm schütten. Tapfer versuchte der Junge, seine Arbeit zu verrichten, obwohl er fast unter der schweren Last zusammenbrach. Jedes Mal, wenn er zu Fritz kam, lächelte er ihn unbekümmert an, als wäre das Leid, das sie umgab, gar nicht vorhanden. Sein Lachen war wie Medizin und linderte Fritz’ Depressionen. Schon bald versuchte er dem Jungen seine Arbeit zu erleichtern, indem er ihm beim Befüllen des Korbes half. So konnte sich der Junge wenigstens für kurze Zeit ausruhen. Kido nutzte die Verschnaufpausen, um Fritz zu unterhalten. Munter plapperte er drauflos und erzählte von seinem früheren Leben. Er erzählte von seinem Dorf, seinen Eltern und Geschwistern und dem unbeschwerten Leben, das er in den Karasbergen geführt hatte, so, als würde er
Weitere Kostenlose Bücher