Sehnsucht nach Owitambe
tauchte er plötzlich aus den schwarzen Schatten auf.
»Kommt schnell!«, flüsterte er. »Ich habe die beiden Wachsoldaten betäubt. Sie werden jedoch nicht lange ohnmächtig sein.« Er griff Fritz unter den Arm und zog ihn hoch. Scheinbar mühelos hob er ihn sich über die Schulter und schleppte ihn huckepack von der Insel. Hinter ein paar Felsen warteten die mit Proviant bepackten Pferde.
»Wir müssen in den Dünen verschwunden sein, bevor die Soldaten Alarm schlagen«, warnte Rajiv. »Sie werden in der Dunkelheit sicherlich nur die Umgebung von Lüderitz absuchen. Ab morgen müssen wir mit einem Suchtrupp rechnen.«
»Wirst du es schaffen, dich auf einem Pferd zu halten?«, fragte sie besorgt. Fritz schien kaum bei Besinnung zu sein. Er nickte schwach, aber er lächelte. Mit Rajivs und Bôs Hilfe hievten sie ihn auf den Pferderücken. Vorsichtshalber banden sie ihn fest. Dann setzten sie sich in Bewegung und ritten den Weg, den
Bô ihnen wies. Die Namib war Bôs Heimat. Er kannte ihre Tücken, aber auch ihre verborgenen Schätze. Nakeshi und Bô saßen gemeinsam auf einem Pferd. Man sah den beiden an, dass ihnen ganz und gar nicht wohl auf seinem Rücken war. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, wären sie lieber gelaufen, aber dann wären sie zu langsam gewesen. Jella hielt sich dicht neben Fritz und achtete darauf, dass er nicht herunterfiel. Ab und zu hielten sie kurz an und sie flößte ihm Wasser und eine stärkende Medizin ein. Wieder einmal bewährte sich Nakeshis Naturapotheke. Jella nahm etwas von dem mit Harz, Antilopendung und Kräutern geformten Klumpen und kaute ihn weich, bevor sie ihn Fritz in den Mund schob. Nach einer kurzen Ohnmacht wachte er auf und fühlte sich um einiges besser. Bis zum Morgengrauen hatten sie den Kutchabriviere erreicht, in dessen Schutz sie die erste Rast einlegten. Sie betteten Fritz in den Schatten eines Köcherbaums und legten sich ebenfalls zur Ruhe. Als Jella nach ein paar Stunden aus einem komaähnlichen Schlaf erwachte, stellte sie zu ihrem Schrecken fest, dass Fritz nicht mehr neben ihr lag. Sie fuhr hoch und musste lächeln. Fritz ließ sich gerade von Rajiv den Bart und die Haare scheren. Als er sie entdeckte, strahlte er sie an. Sein Fieber war etwas gesunken, was allerdings nicht über seinen jämmerlichen Allgemeinzustand hinwegtäuschte. Jella ging zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss.
»Ich habe dich so vermisst«, flüsterte sie zärtlich. Fritz nahm ihre Hand, legte sie an seine frisch rasierte Wange und schloss die Augen. Er hatte offensichtlich Mühe, die richtigen Worte zu finden.
»Rajiv hat mir erzählt, dass wir eine Tochter haben«, sagte er mit rauer Stimme. Er ließ seinen Tränen ungehindert ihren Lauf. »In all der Zeit meiner Gefangenschaft hat nur der Gedanke an dich und das Baby mich am Leben gehalten.«
Jella war tief erschüttert. Was hatten sie ihm nur angetan?
»Jetzt wird alles gut«, sagte sie. Fritz deutete über die weite felsige Ebene mit ihrem goldgelben Gras, das im Wind hin und her wogte. In der Ferne schimmerten mal rötlich braun, mal bläulich die steilen Tirasberge. Darüber wölbte sich der azurblaue Himmel, über den nur ab und zu ein paar Federwölkchen stieben.
»Das ist das Schönste, was ich jemals gesehen habe«, schluchzte er, und dann senkte er seinen Kopf an Jellas Brust und weinte ohne Hemmungen.
Von den Tirasbergen, die sie östlich liegen ließen, zogen sie weiter in Richtung Norden zum Naukluft-Gebirge mit seinen bis zu dreihundert Meter hohen Dünen. Ihr Ziel war die südlich von Swakopmund liegende Walfischbucht. Dort würde Imelda auf sie warten.
»In wenigen Tagen wirst du unsere Tochter sehen«, meinte Jella, während sie in dem gusseisernen Topf mit dem herrlich duftenden Antilopeneintopf rührte. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht hatten sie es gewagt, ein Feuer anzuzünden. Fritz schwieg und stocherte mit einem Stock in der Glut. Er schien gar nicht bei ihr zu sein. Dabei wollte sie ihn nur etwas aufmuntern. Seine trübe Stimmung mit den schweren Depressionen machte ihnen allen zu schaffen. Ihr Mann vermied es, über seine Erlebnisse in dem Konzentrationslager zu erzählen; dabei trug er schrecklich daran. Jedes Mal, wenn sie ihn darauf ansprach, wich er ihr aus und begnügte sich mit einsilbigen Antworten. Jella ließ es dabei bewenden. Immer wieder musste sie an ihre eigene Vergewaltigung in Berlin denken. Es hatte Jahre gedauert, bis sie einigermaßen darüber hinweggekommen war. Sie
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