Sehnsucht nach Owitambe
schon bald führten sie ein angenehmes Leben. Jella kümmerte sich um den Haushalt und die kleine Ricky, während Fritz seiner neuen Arbeit mit großer Freude nachging. Eines Tages brachte Salim ihnen Jamina und ihren Sohn Bali. Die beiden waren Flüchtlinge aus den Überschwemmungsgebieten des Ganges und suchten Unterkunft und Arbeit. Sie hatten alles verloren und waren beinahe am Verhungern. Der Arzt hatte sie unterwegs aufgelesen und empfahl sie der Familie als Hausangestellte. Bali tat sich als Koch und Botenjunge hervor, und Jamina kümmerte sich um den Haushalt und besonders liebevoll um die kleine Ricky.
Jella hatte plötzlich wieder mehr Zeit und schon bald das dringende Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun. Fritz und sie hatten sich natürlich Geschwister für Ricky gewünscht, aber aus irgendeinem Grund war sie nicht wieder schwanger geworden. Vermutlich war Rickys schwere Geburt schuld daran. Jella hatte lange mit ihrem Schicksal gehadert. Sie fühlte sich als Versagerin und unnütz, bis Salim Mohan sie eines Tages fragte, ob sie ihm in seiner Praxis nicht zur Hand gehen wollte. Der Arzt war längst zu einem engen Freund geworden und verkehrte oft in ihrem Haus.
»Sieh mal«, hatte er gesagt, »die indischen Frauen sind sehr schamhaft. Sie lassen es nicht zu, dass ein Mann sie berührt. Wenn ich eine Untersuchung mache, dann stehe ich hinter einem Vorhang und lasse die Dienerinnen oder Freundinnen die Patientin abtasten. Aber die meisten haben keine Ahnung und geben mir falsche Auskünfte. Du kennst dich dagegen mit dem menschlichen Körper aus. Deine Beobachtungen können also von großem Nutzen sein.« Jella musste nicht lange überlegen. Sie war froh, endlich wieder eine sinnvolle Aufgabe zu bekommen. Sie kümmerte sich zwar gern um ihre kleine Tochter, aber die Beschäftigung mit ihr füllte nicht den ganzen Tag aus. Fritz
riet ihr ebenfalls zu. Sie wusste längst, dass es ursprünglich seine Idee gewesen war und er Salim Mohan dazu angeregt hatte, sie zu fragen. Umgehend hatte sie ihre neue Arbeit aufgenommen. Sie assistierte dem Arzt in seiner Praxis und begleitete ihn zu vielen Hausbesuchen, auch an den fürstlichen Hof. Nur zum Maharana und seiner Rana ging Salim ohne sie.
Es war erstaunlich, wie viel Jella von dem Arzt lernen konnte, denn Salim hatte sowohl in Oxford studiert als auch die klassische indische Ayurvedamedizin erlernt. Bisher unbekannte Welten eröffneten sich ihr, und sie sog ihr neues Wissen wie ein Schwamm auf. Nach drei Jahren war sie Salim in vielem ebenbürtig und in manchen Dingen sogar überlegen. Der ältere Arzt begann, auf ihre Ratschläge zu hören, und fragte sie immer häufiger nach ihrer Diagnose. Bald überließ er ihr eigene Patienten, vor allem Frauen, und behandelte sie wie eine Partnerin. Jellas Traum war Wirklichkeit geworden. Sie hätte zufrieden sein können, wenn da nicht die vielen armen Menschen auf der Straße gewesen wären. Tag für Tag, wenn sie durch die schmalen Gassen der lebhaften Stadt ging, sah sie das Elend der mittellosen Menschen. Ihr Leid rührte sie tief. Ihnen half niemand. Wie oft musste sie sehen, wie eine unsachgemäß behandelte Wunde zu Wundbrand und Tod führte, ganz abgesehen von den diversen Durchfallerkrankungen, von Malaria und Lepra. Jella beschloss, etwas zu unternehmen. Ihr Haus war groß genug, dass sie darin eine kleine Arztpraxis einrichten konnte. Also bat sie Fritz und Bali, den ehemaligen Lagerraum des Haveli zu räumen. An zwei Tagen in der Woche wollte sie nun darin für die Armen der Stadt Sprechstunde abhalten. Doch ihr Vorhaben war bei Weitem nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Anfangs blieb die Praxis leer, obwohl sie immer wieder Leute direkt ansprach. Die Menschen scheuten sich, zu der Mleccha, der Andersgläubigen, zu gehen. Sie misstrauten der weißen
Frau und ihrer fremdartigen Medizin, weil sie keine von ihnen war. Jella war enttäuscht. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder um ihre wohlhabenden Patienten zu kümmern. Eines Tages war sie auf dem Heimweg vom Basar. Sie hatte sich ein paar Kräuter besorgt, um neue Salben anzurühren. Gemächlich schlenderte sie mit ihren Einkäufen durch die engen Gassen, als sie Zeugin wurde, wie ein einfacher Arbeiter von einem Bambusgerüst stürzte, das am Palast des Maharana angebracht worden war. Der Mann hatte das Gleichgewicht verloren und war kopfüber mehr als zehn Meter hinab in die Tiefe gestürzt. Etwa drei Meter vor seinem
Weitere Kostenlose Bücher