Sehnsucht nach Owitambe
mal, wie groß Raffael geworden ist«, staunte sie und deutete auf einen hochgewachsenen, jungen Mann in Anzug und mit sorgfältig gekämmtem Haar. Auf den ersten Blick fiel nicht unbedingt auf, dass seine Mutter eine Schwarze war. Seine Haut war dafür, wie auch auf dem Schwarzweißfoto erkennbar war, ungewöhnlich hellhäutig, nur die Form seiner Nase und die breiten Lippen verrieten seine Abstammung.
Allerdings sah er auf dem Foto ziemlich mürrisch drein. Jella musterte nun auch die anderen Personen auf dem Bild. Neben Raffael standen ihr Vater Johannes und seine Frau Sarah. Jella fiel auf, dass ihr Vater krumm geworden war und schlohweißes Haar bekommen hatte. Natürlich waren auch an ihm die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Jella rechnete nach. Dreiundsechzig Jahre war ihr Vater nun alt. Sein hageres Gesicht blickte starr in die Kamera und ließ eine Spur von Verbitterung erkennen. Seine Himbafrau Sarah dagegen hatte sich äußerlich kaum verändert. Ihr Lächeln wirkte warm und verständnisvoll wie eh und je. Neben Jellas Familie waren noch Fritz’ Mutter Imelda und ihr indischer Mann Rajiv zu sehen sowie der Vorarbeiter Samuel mit seiner Frau Teresa und ihrem Sohn Mateus.
»Wie gern wäre ich jetzt bei ihnen!«, seufzte sie sehnsuchtsvoll.
Nach all den Jahren in Indien war es ihr nie gelungen, sich hier wirklich heimisch zu fühlen. Ihr Herz war bei ihrer überstürzten Flucht in Afrika geblieben. Dabei konnte sie sich nicht über ihr Leben beklagen. Es ging ihnen allen gut. Sie besaßen ein schönes Haus, hatten ein ausreichendes Einkommen und eine gesunde Tochter – und doch waren sie hier nicht so zu Hause, wie sie es in Owitambe gewesen waren. Fritz erging es ähnlich, auch wenn er es nicht so zeigte. Er stürzte sich lieber in seine Arbeit als Hoftierarzt und versuchte den Intrigen am Hofe des Maharanas von Udaipur, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen. Eine Reihe von Helfern ermöglichte es ihm, auch Operationen an Tieren durchzuführen. Ihm oblag nicht nur das Wohlergehen der über hundert Pferde und zwanzig Elefanten am Hof des Fürsten von Mewar, sondern er war auch für die Tiermenagerie im Rosegarden sowie für die Wildtiere in den Wäldern verantwortlich.
Jella begann vorzulesen:
Tjike!
Liebe Jella, lieber Fritz, meine tanzende Gazelle!
Uns geht es so weit gut! Die Farm wirft ordentliche Erträge ab, vor allem seitdem wir endlich mit unserer Karakulschafzucht Erfolg haben. Die Lämmer haben ein sehr schönes, gelocktes Fell, das mit jedem Persianerfell aus Buchara konkurrieren kann. Der Pelzgroßhändler Paul Thorer aus Leipzig ist sehr zufrieden mit unserer Ware und ordert mehr Felle, als wir ihm überhaupt liefern können. Natürlich haben wir weiterhin auch Rinder auf Owitambe, allerdings ist der Bedarf nach Fleisch in den letzten Jahren eher zurückgegangen. Samuel ist immer noch mein Vorarbeiter, obwohl auch er alt geworden ist und immer schlechter sieht. Seine Söhne Ben und Mateus helfen zwar auch auf der Farm mit, aber es fehlt ihnen eindeutig die Weitsicht ihres Vaters. Wir könnten weitaus effektiver wirtschaften, wenn sie mehr Engagement zeigten.
Jella runzelte die Stirn.
»Merkst du das auch?«, fragte sie irritiert. »Das hört sich ja richtig negativ an, obwohl es gute Nachrichten sind.«
Fritz zuckte mit den Schultern.
»Johannes ist besorgt. Er macht sich eben Gedanken, wie es mit Owitambe weitergehen soll.«
»Wir hätten schon längst wieder zurückgehen sollen«, überlegte Jella nicht zum ersten Mal. »Wir könnten auf Owitambe noch einmal von vorn anfangen.«
»Wie stellst du dir das vor?«, widersprach Fritz. »Bis vor Kurzem tobte noch überall Krieg. Eine Schiffsreise wäre viel zu gefährlich gewesen. Außerdem waren wir uns doch einig, dass sich die politische Lage in Südwest erst einmal stabilisieren sollte, bevor wir zurückgehen.«
Jella war zu müde, um weiterzudiskutieren. Sie nahm den Brief erneut zur Hand und las.
Ihr Vater beschrieb in allen Einzelheiten das Leben auf der Farm, erläuterte längst überfällige Reparaturen und erzählte von Plänen, die er hatte verwerfen müssen, weil sie über seine Kräfte gingen. Je weiter sie las, desto stärker wurde ihr Eindruck, dass ihr Vater nicht nur missmutig, sondern beinahe depressiv klang. Aus jeder einzelnen Zeile sprach Verbitterung. Erst gegen Ende seines Briefes ging er auf die Familie ein:
Raffael beendet in den nächsten Wochen das Gymnasium in Windhuk. Er ist ein guter Schüler,
Weitere Kostenlose Bücher