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Sehnsucht nach Owitambe

Sehnsucht nach Owitambe

Titel: Sehnsucht nach Owitambe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Mennen
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bedeutete »Herr des Universums«. Einmal im Jahr, zwischen Juni und Juli, das dem Hindumonat Ashada entsprach, wurde zu Ehren des Lord Jagannath sowie seiner beiden Geschwister Balabhadra und Subhadra ein großes Fest veranstaltet, an dem die Dreigottheit durch die Straßen der Stadt gefahren wurde. Jeder, der an diesem Tag einen Blick auf die Statue des Lord Jagannath erhaschen konnte oder den Wagen berührte, auf dem das Idol transportiert wurde, oder auch nur die Seile, an denen der Wagen gezogen wurde, der war von seinen weltlichen Sünden reingewaschen und hatte gute Voraussetzungen für eine Wiedergeburt in einer höheren Kaste.
    Der Umzug entsprach einem Volksfest mit Musik, Tanz, Blumen und zahlreichen Straßenverkäufern, die für das leibliche Wohl sorgten. Ricky war allerdings an etwas ganz anderem interessiert. Seit sie gehört hatte, dass die drei Wagen der drei Gottheiten von Tempeltänzerinnen des Gurukulam begleitet wurden, war es ihr brennender Wunsch, den Umzug zu sehen. Sie hatte von den Tänzerinnen wundersame Dinge gehört. Radhu selbst hatte ihr erzählt, dass nur die begabtesten und musischsten Mädchen des Landes in dem Gurukulam wohnen und ihre Ausbildung genießen konnten. Der Guru selbst reiste durch das ganze Land und erwählte sich seine Tänzerinnen aus allen Kasten. Ein Leben voller Tanz und Musik, wie wunderbar musste das wohl sein! In ihren Tagträumen malte sich Ricky manchmal aus, wie es wäre, wenn sie zu solch einer Ausbildung erwählt würde. Zu ihrem Leidwesen hatte sie bislang nie die
Gelegenheit gehabt, die Tänzerinnen bei einem ihrer wenigen öffentlichen Auftritte zu bewundern. Ihre Eltern hatten wenig Sinn für diese Musen. Ihre Mutter würde ihr wahrscheinlich am liebsten jeden Umgang mit Musik verbieten! Für sie zählten nur Fakten. Ricky ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie hatte gelernt, sich auf ihre Weise vor der Ignoranz ihrer Eltern zu schützen. Weil sie offene Konflikte scheute, suchte sie sich andere Wege, wie sie ihre Interessen durchsetzen konnte. In Jamina hatte sie eine treue Verbündete. Die Kinderfrau liebte sie abgöttisch und war wie Wachs in Rickys Händen. Die ältere Frau hatte ihrem Schützling auch heute den Rücken freigehalten, als sie sich nach der Schule heimlich mit ihrer indischen Freundin Radhu, einer Blumenverkäuferin vom Jagannath-Tempel, in der Stadt getroffen hatte.
    Um in der Menge nicht aufzufallen, hatte sich Ricky einen grünen Sari angezogen, der wunderbar zu ihren bernsteinfarbenen Augen passte. Der Umzug sollte am frühen Nachmittag beginnen. Ricky hoffte sehr, dass er nicht länger als zwei Stunden dauern würde. Bis ihre Mutter aus der Praxis nach Hause kommen würde, musste sie unbedingt zu Hause sein. Doch die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah. Eigentlich hätte sich Ricky schon längst auf den Heimweg machen müssen. Da vernahmen sie endlich das laute Tröten der Blechblasinstrumente, die den Beginn des Umzugs ankündigten. Auf der Straße hatte sich eine riesige Menschenmenge angesammelt. Sie drängten sich direkt unterhalb der jungen Frauen. Es mussten Tausende sein. Einige Soldaten in den Uniformen des Maharana sorgten dafür, dass sie nicht über die mit roter Farbe gemalten Striche drängten, die die Gasse für die Prozession markierten. Dann verteilten Leute aus großen Körben Prashad, geweihte Speise, die den Menschen bei ihrer Läuterung helfen sollten. Ricky knurrte der Magen, als der Duft der knusprig gebackenen Rotis und würzigen Samosas, Dhal und Gebäckstückchen bis in ihr
Versteck hinauf waberte. Um besser sehen zu können, presste sie ihr Gesicht an das Steingitter. Radhu kicherte.
    »Du bist wie ein kleines Kind«, spottete sie. »Du wirst deine Tänzerinnen schon noch früh genug zu Gesicht bekommen.«
    Ricky winkte ungeduldig ab. Sie erwartete, dass der Umzug sie jeden Augenblick erreichen würde, aber es dauerte nochmals eine halbe Ewigkeit, bevor die erste Musikkappelle um die Ecke bog. Der Krach war ohrenbetäubend, als sie durch einen in Rot- und Orangetönen gehaltenen Triumphbogen aus Stoff marschierten. Die beiden jungen Mädchen hielten sich die Ohren zu, als die mit europäischen Musikinstrumenten ausgestattete Truppe an ihnen vorüberzog. Ricky glaubte, dass die Priester den Engländern damit ihre Ehrerbietung erweisen wollten; allerdings schien keiner der Spieler auch nur eines der Instrumente wirklich zu beherrschen. Das Resultat war eine schreckliche Kakophonie. Unbeeindruckt von

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