Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sehnsucht nach Owitambe

Sehnsucht nach Owitambe

Titel: Sehnsucht nach Owitambe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Mennen
Vom Netzwerk:
Pose. Ihre stark geschminkten Gesichter sandten ein Lächeln in die Menge, das erwärmte. Ebenso unvermittelt nahm die Musik wieder an Tempo auf, und die Tänzerinnen vollführten im Gleichklang rasche, kontrollierte Bewegungen. Ricky war völlig gebannt. Nie in ihrem Leben hatte sie großartigere Tänzer gesehen. Als sie gewahr wurde, dass sich die Zuschauer nun den Tänzerinnen anschlossen, stand ihr Entschluss fest.
    »Ich muss raus«, rief sie viel zu laut. Radhu sah sie erschrocken
an. Doch das junge Mädchen war wie infiziert. Sie sprang auf und machte sich daran, die Leiter hochzusteigen.
    »Bleib hier! Du wirst dich verlaufen«, flüsterte Radhu.
    »Nicht, wenn du bei mir bist«, rief Ricky vergnügt. »Nun beeil dich schon!«
    Radhu blieb gar nichts anderes übrig, als ihrer Freundin auf die Straße zu folgen. Ricky hatte sich nicht vorgestellt, was für ein Gedränge in den schmalen Gassen herrschte. Ehe sie sich’s versah, war sie in den Strudel der Menschen hineingezogen worden und wurde mit ihnen getrieben. Als sie sich nach Radhu umsah, konnte sie sie nirgends entdecken.
    »Auch egal«, murmelte sie und versuchte, näher an die Tänzerinnen heranzukommen. Sobald sie eine kleine Lücke zwischen den Menschen entdeckte, drückte sie sich durch. Schließlich war sie bis zur ersten Reihe vorgestoßen. Die Mädchen tanzten wie in Trance, und Ricky spürte plötzlich, wie der Rhythmus auch in ihre Beine sprang und sie unwillkürlich versuchte, die komplizierten Tanzbewegungen nachzuahmen. Die tosende, jubelnde Menge um sie herum nahm sie ebenso wenig wahr wie den jungen, festlich gekleideten Mann, der ihr seit geraumer Zeit folgte. Erst als sich die Prozession vor dem Jagannath-Tempel auflöste, kam sie wieder zur Besinnung. Nassgeschwitzt und beseelt von dem gerade Erlebten stand sie vor dem Tempel und beobachtete die Tänzerinnen aus dem Gurukulam, die sich vor den Stufen des Tempels versammelten. Sie wurden von einer älteren Frau weggeführt, die streng darauf achtete, dass die Mädchen sich zügig auf den Heimweg machten. »Ich muss wissen, wo sie hingehen und wie sie wohnen«, dachte Ricky, ohne auf die dicken Wolken zu achten, die sich über dem Abendhimmel zusammenballten. Sie folgte der Gruppe durch die dunklen verwinkelten Gassen der Altstadt und versuchte sich den Weg zu merken. Doch bald schon verlor sie die Orientierung. In diesem Teil der Stadt war sie noch nie
gewesen. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Es regnete nicht mehr, sondern es schüttete wie aus Eimern. Ricky konnte keine fünf Meter weit durch den grauen Regenschleier sehen. Ehe sie sich’s versah, hatte sie die Tänzerinnen aus den Augen verloren.
    »So ein Mist«, schimpfte sie laut vor sich hin. Sie machte auf dem Absatz kehrt, um nach Hause zu laufen. Dabei prallte sie gegen eine Gestalt, die dicht hinter ihr gelaufen war. Erschrocken trat sie zurück. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie dunkel es schon war. Außer dem Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, war niemand in ihrer Nähe.
    »Verzeihung«, murmelte sie auf Hindi, drückte sich an ihm vorbei und verschwand in einer der Gassen.
    »Warte«, antwortete der Mann in fließendem Englisch. Seine Stimme klang jung. »Du gehst in die falsche Richtung.« Er zeigte auf eine andere Gasse. »Zum Jagannath-Tempel geht es hier entlang.«
    Ricky stutzte. »Woher willst du wissen, dass ich dorthin will?«, fragte sie misstrauisch. Das Gesicht des Mannes lag immer noch im Dunkeln. Er war schlank und nicht sehr groß. Sie beschloss für sich, dass er nicht gefährlich sein konnte. Langsam ging sie zurück. Der Sari klebte eng an ihrem Körper. Sie war bis auf die Haut durchnässt.
    »Woher willst du wissen, wohin ich will?«, wiederholte sie ihre Frage. Die Stimme des jungen Mannes klang amüsiert, als er ihr antwortete.
    »Du bist den Tänzerinnen gefolgt und hast dich offensichtlich verlaufen«, stellte er fest. »Und ich bin dir gefolgt, weil ich mir schon dachte, dass so etwas passieren wird.«
    »Ach ja?« Ricky schnappte irritiert nach Luft. »Findest du nicht, dass deine Behauptung ziemlich unverschämt ist?«
    »Unverschämt genug, um einem so hübschen Mädchen wie dir aus der Patsche zu helfen.«

    »Ich stecke in keiner Patsche! Außerdem komme ich ganz gut allein zurecht«, behauptete Ricky aufgebracht.
    »Dann kann ich also jetzt gehen«, meinte der junge Mann. Ricky hörte den Spott in seiner Stimme, als er sich umdrehte und davonging. Eine Ratte huschte

Weitere Kostenlose Bücher