Sehnsucht nach Owitambe
Glocke das Ende der Pause verkündete. Doch das war ihm egal. Zuerst musste er wissen, was in dem Brief stand. Rasch faltete er ihn auseinander und las:
Lieber Unbekannter!
Stehen Sie tatsächlich jeden Tag meinetwegen hinter dem Baum? Ich kann es gar nicht glauben, denn ich bin es nicht gewohnt, dass man mir so viel Aufmerksamkeit schenkt. Ihre Worte, Ihr Gedicht haben mich sehr berührt, und ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen antworten kann. Nun habe ich ein Gedicht von Richard Dehmel gefunden, das mir für diesen Anlass sehr geeignet schien. Vielleicht empfinden Sie die Frage ja auch als Antwort?
Die Frage
Kann ich dein Herz beglücken?
liebreiche Seele, nein.
Ich kann dich an mein Herz drücken,
fühlen mußt du’s allein.
Noch im glückhellsten Gesange
schwebt ein dunkler Klang;
lausch ihm nicht zu lange,
sonst wird dir bang.
Ob ich dir tausendmal sage:
ich liebe dich –
immer doppelt bebt drin die Frage:
liebst du mich? –
Am Sonntag nach dem Gottesdienst haben wir bis zum Mittagessen eine Stunde Freizeit. Ich warte auf Sie bei dem Schuppen hinter der Kirche. Bitte seien Sie diskret. Es darf uns auf keinen Fall jemand zusammen sehen. Das müssen Sie mir versprechen!
Ihre Sonja
Raffaels Hände zitterten vor Aufregung. Sonja, was für ein schöner Name. Er atmete tief ein und meinte ihren zarten Veilchenduft
noch in der Nase zu spüren. Wie selbstsicher sie gewesen war. Hätte er doch nur den Augenblick ihres Beisammenseins festhalten können! Zwei lange Tage würde er sich noch gedulden müssen, bis er sie wiedersehen konnte. Er faltete Sonjas Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn ein. Dann eilte er zurück in den Unterricht. Er hatte Glück, dass Dr. Hartriegel noch nicht im Klassenraum war. Baltkorn grinste hämisch, als er an ihm vorbeiging. Wahrscheinlich hatte er sich eine neue Gemeinheit für ihn ausgedacht. Bevor er sich auf seinen Stuhl setzte, vergewisserte er sich, ob nicht Wasser oder Farbe darauf war. Seit dem missglückten Versuch, ihn um seinen Schulabschluss zu bringen, ließ sein Mitschüler keine Gelegenheit aus, ihn zu provozieren. Raffael gab sich alle Mühe, überhaupt nicht darauf zu reagieren. Es gab genügend Leute an der Schule, die es nur allzu gern gesehen hätten, wenn er kurz vor dem Schulabschluss von der Schule verwiesen worden wäre. Sein einziger Trost war, dass ihn nur noch drei Wochen vom Ende seiner Schulzeit trennten. Danach würde er nie wieder mit solchen Rüpeln wie Baltkorn und dessen Freunden unter einem Dach leben müssen. Er hasste das Internatsleben. Die engen Regeln und starren Vorschriften passten so gar nicht zu seinem Naturell. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen und fand es unerträglich, Tag und Nacht mit den anderen Schülern zusammen eingesperrt zu sein. Auf der anderen Seite ging er gern zur Schule und sog alles Wissen wie ein Schwamm in sich auf. Die schriftlichen Prüfungen hatte er mit Leichtigkeit bestanden. Nun musste er noch ein paar Kolloquien überstehen, doch auch davor war ihm nicht bange. Er durfte sich nur nicht provozieren lassen. Doch Baltkorn machte es ihm nicht leicht. Einmal fehlte ihm beim Mittagessen sein Nachtisch. Als Raffael aufstand, um sich bei der Köchin zu beschweren, trat ihm Baltkorn in den Weg. Er hielt zwei Schüsselchen mit Schokoladenpudding in den Händen.
»Oh, tut mir leid, Sonthofen«, grinste er. »da habe ich doch aus Versehen deinen Pudding mitgehen lassen.« Er sah sich rasch um, ob man sie beobachtete, dann spuckte er blitzschnell auf die braune Puddinghaut und reichte ihm das Schälchen. Raffael schluckte und biss die Zähne zusammen. Scheinbar gleichmütig nahm er das Schälchen und ging damit an seinen Platz. Ein anderes Mal zog er ein frisches Hemd aus seinem Spind und musste feststellen, dass an diesem und auch an den anderen alle Knöpfe abgeschnitten waren. Raffael musste erst beim Hausmeister um Nähzeug bitten, um die Knöpfe wieder anzunähen. Dadurch verpasste er das Frühstück. Mit geballten Fäusten überstand er die höhnischen Kommentare von Baltkorn und seinen Freunden, obwohl alles in ihm nach Rache schrie. Allein der Gedanke an Sonja ließ ihn die Gemeinheiten seiner Mitschüler ertragen, aber er schwor sich, es ihnen irgendwann einmal heimzuzahlen.
Üblicherweise fand jeden Sonntag in den unterschiedlichen Kirchen ein Gottesdienst statt, zu dem alle Schüler, die in Windhuker Internaten untergebracht waren, zu gehen hatten. Raffael
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