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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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ihm?« Malu konnte sich die Frage nicht verkneifen. Es hatte sich nichts verändert. Wie töricht ihre Hoffnung gewesen war!
    »Weil er dich durchfüttern muss, deshalb!« Die Mutter zeigte mit gekrümmten Fingern auf Malu. »Weil du nicht gehen willst, weil du dich in seinem Haus festgesetzt hast wie eine Zecke, deshalb bin ich hier. Nur deinetwegen.«
    »Du glaubst das wirklich«, stellte Malu betrübt fest und seufzte. »Du hast vergessen, dass Ruppert es war, der dich mit einem Bauernfuhrwerk hierher geschickt hat. Und du willst auch nicht wahrhaben, dass dein Zustand so schlecht ist, weil niemand die Kosten für dieses Stift übernimmt. Die Nonnen geben dir allein Nahrung und Obdach, weil sie barmherzig sind.«
    »Unfug!«, schrie ihre Mutter erneut. »Lügen. Nichts als Lügen. Mein Sohn überweist jeden Monat Geld. Sehr viel Geld, damit es mir an nichts mangelt. Doch die Nonnen sind gierig. Sie stecken alles in die eigene Tasche. Aber das wird nicht mehr lange andauern. Ruppert wird kommen und mich heimholen.«
    Malu nickte. Sie wusste nichts mehr zu sagen. Es gab nichts mehr zu sagen. Und sie konnte auch nichts tun, denn ihre Mutter wollte nicht, dass sie etwas tat.
    »Auf Wiedersehen, Mutter«, sagte sie leise, trat dicht an die Frau heran und strich ihr mit dem Zeigefinger sanft über die Wange.
    »Äh!«, stöhnte die Mutter auf und wischte sich angewidert über das Gesicht. Dann wandte sie sich ab, starrte aus dem Fenster, genau so, wie Malu sie vorgefunden hatte. »Geh! Geh weg, und komm nicht wieder!«
    Leise schloss Malu die Tür, lehnte sich im Gang für einen Augenblick an die Wand. Was ist nur aus uns geworden, dachte sie. Dann begab sie sich zu der Nonne in der Eingangshalle.
    »Haben Sie die Rechnung fertig?«, fragte sie leise.
    Die Nonne nickte, überreichte ein Blatt Papier. Malu zahlte, ohne sich die Rechnung genauer anzusehen.
    »Meine Mutter ist schmutzig. Ihre Möbel und ihre Kleider sind verschlissen.«
    Die Nonne breitete beide Arme aus. »Wir tun, was wir können. Ihre Mutter ist bei Weitem nicht die Bedürftigste. Wir haben viele Männer und Frauen hier, die weder Angehörige noch Vermögen haben. Ihre Mutter muss nehmen, was wir ihr geben können.«
    Malu holte einen Hundert-Rubel-Schein aus ihrer Geldbörse. »Das ist für Kleidung«, sagte sie. Zwei weitere Scheine legte sie obendrauf. »Und das hier für neue Möbel. Ich werde ab jetzt die Rechnungen von Berlin aus begleichen. Wenigstens finanziell soll es ihr an nichts mangeln.«
    Die Nonne nickte. »Sie sind eine gute Tochter.«
    Malu schüttelte den Kopf. »Ich bin gar keine Tochter für sie. Oder hat sie je von mir gesprochen?«
    Die Nonne schüttelte den Kopf. »Das hat sie wahrhaftig nicht. Wenn sie spricht, dann nur über ihren Sohn.«
    »Sehen Sie. Das habe ich vorhin gemeint, als ich nach dem Gebot für die Eltern fragte.«
    Sie nickte der Nonne zu und verließ das Stift.

Sechsundzwanzigstes Kapitel
    Riga, 1923
    M it jedem Schritt, den Malu das Stift hinter sich ließ, wurde sie beschwingter. Es hatte geschmerzt, ihre Mutter so zu sehen. Und es hatte wehgetan, dass sich nichts verändert hatte. Aber dieses Mal wusste Malu, dass sie alles getan hatte, was sie tun konnte. Sie würde für die Pflege ihrer Mutter zahlen, sie aber niemals wiedersehen. Ein altes Kapitel ihres Lebens, das wie eine dunkle Wolke auf ihren Schultern geruht hatte, war zu Ende gegangen.
    Sie war auf einmal so froh, dass sie am liebsten gesungen hätte. Stattdessen betrat sie ein Geschäft für Damenbekleidung, das früher einen hervorragenden Ruf gehabt hatte. Sie wollte sich etwas Gutes tun, sich etwas gönnen, ein wenig feiern, dass das Kapitel »Mutter« abgeschlossen war. Doch auf den Stangen hingen nur farblose, billige Kleider, die man in Berlin längst dem Roten Kreuz gespendet hätte. Die Stoffe waren von minderer Qualität, die Schnitte veraltet, die Muster längst aus der Mode.
    Ein Verkäufer trat an sie heran. Er war nicht mehr jung, hätte ihr Vater sein können. »Kann ich der gnädigen Frau behilflich sein?«, fragte er.
    »Danke, ich schaue nur.« Malu sah sich erneut um, aber da war kein einziges Stück, das ihr gefiel.
    Der Mann dagegen betrachtete ihre Kleidung mit großen Augen. Seine Blicke fuhren über den Stoff, betrachteten die Nähte. »Sie sind wohl nicht aus Riga?«
    »Nein. Ich komme aus der Nähe von Mitau, aber ich lebe seit einiger Zeit in Berlin.«
    »Das sieht man.« Aus den Worten des Mannes sprach Bewunderung. »Ihre

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