Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
gottlos. Natürlich kenne ich das Gebot. Aber ich habe in der Heiligen Schrift ein anderes Gebot vermisst. Nämlich eines, das gebietet, dass auch die Eltern ihre Kinder achten und respektieren und lieben sollen. Wo ist das?«
Die Nonne schnaubte. Ihr Mund wurde schmal. Sie deutete auf eine Tür. »Dort wohnt sie. Sie können hineingehen. Aber vergessen Sie bitte nicht, die Rechnung für das letzte halbe Jahr zu zahlen. Wir sind barmherzig, aber am liebsten zu denen, die unsere Barmherzigkeit am dringendsten brauchen.«
»Wie viel bin ich Ihnen schuldig?«, fragte Malu und kramte in der Tasche nach ihrer Geldbörse.
»Nicht jetzt. Besuchen Sie erst Ihre Mutter. Ich mache ihnen derweil die Rechnung fertig. Sie finden mich unten in der Eingangshalle.«
Die Nonne wandte sich ab und schritt den düsteren Gang zurück, dessen Boden aus bloßen Steinen bestand. Die Tür, auf die sie gezeigt hatte, war mit dunkelbrauner Farbe angestrichen, die an vielen Stellen abplatzte. Zwar gab es auch eine Klinke, aber das Schloss war herausgebrochen, sodass jeder zu jeder Zeit eintreten konnte.
Vorsichtig klopfte Malu.
Hinter der Tür blieb es still bis auf ein Scharren. Es hörte sich an, als würde ein Stuhl über den Boden gezogen.
Sie klopfte ein zweites Mal, und wieder bat sie niemand herein.
Kurz entschlossen drückte Malu die Klinke hinunter und stieß die Tür vorsichtig auf. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, war so überwältigend, dass sie ein Würgen unterdrücken musste. Es roch, als wäre das Zimmer seit Jahren nicht mehr gelüftet worden.
Als sie die Tür weiter aufdrückte, wirbelten Staubflocken über den Boden. Vor dem Fenster, in einem verschlissenen Sessel, saß eine Frau, die Malu erst auf den zweiten Blick erkannte. Die Gesichtszüge dieser alten Frau erinnerten zwar an die der Mutter, doch die Freifrau Cäcilie von Zehlendorf war stets gut frisiert und gekleidet gewesen. Der Frau am Fenster aber hingen die grauen Haarsträhnen ungewaschen und ungebürstet bis auf das fleckige Nachthemd herab. Über der Schulter trug sie ein Tuch, das so verschlissen war, dass es selbst das Gesinde auf Gut Zehlendorf nicht getragen hätte. Die Füße waren nackt, und Malu ekelte sich beim Anblick der überlangen gelben Zehennägel.
»Mutter?«, fragte sie leise.
Die Frau fuhr herum und betrachtete sie mit funkelnden Augen. »Was willst du?«, herrschte sie Malu an.
»Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
»Nun hast du es gesehen.«
»Ja«, erwiderte Malu. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Kannst du mir meine Jugend zurückgeben? Meine Schönheit? Bringst du mich zurück nach Hause?«
»Nein, das kann ich alles nicht.«
Ihre Mutter verzog verächtlich die Lippen, und Malu sah, dass ihr mehrere Zähne fehlten.
»Das dachte ich mir. Was kannst du überhaupt schon? Du warst eine Kalamität, und du wirst immer eine Kalamität sein.«
Malu schwieg. Sie bereute längst, dass sie gekommen war. Nichts hatte sich geändert. Gar nichts. Und trotzdem, oder gerade deshalb, stand sie nun hier. Sie wollte ein letztes Mal aus dem Mund der Mutter hören, dass sie ein ungeliebtes Kind war. Erst nach einer ganzen Weile, als ihre Mutter schon wieder gleichgültig aus dem Fenster schaute, fand Malu ihre Sprache wieder. »Wollen wir nicht vergessen, was gewesen ist?«
Die Mutter fuhr auf. »Vergessen soll ich? Vergessen, dass du mir das Leben verdorben hast?« Sie schüttelte den Kopf und betrachtete Malu abfällig. »Bist du inzwischen verheiratet? Hast du ein schönes Haus? Bedienstete?«
Malu schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich nicht. Ich wohne in Berlin zusammen mit Constanze in einer Wohnung. Wir haben keine Haushälterin. Aber zweimal die Woche kommt eine junge Frau, die bei uns putzt.«
Die Mutter nickte. »Dachte ich es mir doch. Du warst verloren vom ersten Tag deines Lebens. Ach, wenn nur Ruppert hier wäre! Er würde mich hier herausholen. Ich könnte bei ihm und seiner Frau leben, könnte mich an den Enkeln erfreuen. Aber du?«
»Mutter?« Malu kostete es Mühe, ruhig zu bleiben. »Ruppert lebt auch in Berlin. Seine Wohnung ist sogar kleiner als meine. Er ist nicht verheiratet und hat auch keine Kinder.«
»Unfug!«, krächzte die Frau und wedelte mit der Hand, als wollte sie Fliegen verscheuchen. »Du lügst. Du hast immer gelogen! Ein schönes Haus hat er, viel schöner als das Herrenhaus. Und seine Frau ist eine Gräfin. Sehr reich, sehr vornehm.«
»Wenn das so ist, warum lebst du dann nicht bei
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