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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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Duft, zu diesen Geräuschen, zu diesen Menschen.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Ladeninhaberin auf Lettisch, während sie lächelnd zu ihr trat.
    Beim vertrauten Klang der Worte überfielen Malu die Erinnerungen. Sie dachte an die Zeit, in der nicht alles gut, aber wenigstens geordnet gewesen war. Vor ihrem inneren Auge erblickte sie den Vater, der am Abend stundenlang in seinem Arbeitszimmer saß. Und der seine Beine glatt vom Körper ausstreckte, sodass Malu besser auf seinen Schoß steigen konnte. Sie erinnerte sich an seinen Geruch nach Tabak, Erde und frisch gemähtem Heu, an seine ungeschickten Bewegungen, wenn er sie streichelte.
    Warum nur hatte die Mutter in ihrer Erinnerung keinen Platz? Auch Ruppert tauchte nicht auf. Es schien, als hätte sie mit Ilme, ihrem Vater und der Familie Mohrmann allein auf Zehlendorf gelebt. Beinahe wäre sie in Tränen ausgebrochen.
    Die Ladenbesitzerin sah Malu fragend an und versuchte es mit ein paar russischen Worten. Malu antwortete auf Russisch, das sie ebenso gut sprach wie Lettisch.
    »Ich suche nach alten Mustern, nach Stickvorlagen von früher, die so typisch sind für unser Land. Ich möchte so viele wie möglich davon kaufen. Dazu den passenden Stoff und natürlich das Garn.«
    Die Lettin kniff die Augen leicht zusammen. »Was wollen Sie damit?«
    »Ich arbeite für das Berliner Kaufhaus KaDeWe. Es ist das größte in ganz Europa. In der neuen Saison sollen bestickte Blusen angeboten werden.«
    Das Lächeln der Frau verschwand. »Sie arbeiten für die Deutschen?«
    Malu nickte.
    »Das hier, das ist nichts für die Deutschen.« Die Frau riss ihr eine Stickvorlage aus der Hand, verbarg sie hinter ihrem Rücken und funkelte Malu böse an.
    »Warum nicht?«
    »Die Deutschen!« Die Frau spuckte diese Worte regelrecht in Malus Richtung. »Sie haben uns alles genommen. Zuerst unser Land, dann im Kriege die Söhne, Männer und Väter. Und nun wollt ihr noch unsere Traditionen?« Sie schüttelte den Kopf, verbarg das Muster hinter der Ladentheke, dann öffnete sie die Tür, blieb daneben stehen und sah Malu auffordernd an.
    Malu verließ den Laden wie ein geprügelter Hund.
    Sie hat recht, dachte sie. Aber ich will ihr doch nichts wegnehmen. Im Gegenteil: Ich möchte, dass alle Leute die Stickereien bewundern.
    Sie ging in den nächsten Laden. Dieses Mal sprach sie sofort Lettisch mit dem Besitzer. Er gab ihr einige Vorlagen, einen Ballen Stoff und ein Dutzend Rollen Garn. Doch das reichte Malu noch lange nicht. Und so ging sie weiter, von Geschäft zu Geschäft, und kaufte, was sie bekommen konnte.
    Am Mittag war sie so erschöpft, als hätte sie einen kilometerlangen Gewaltmarsch hinter sich. In einem kleinen Restaurant aß sie ein typisch lettisches Gericht, das sie aus den Gesindehäusern auf Zehlendorf kannte: eine Gemüsesuppe aus roter Bete, Gurken, Eiern, Dill und Sauerrahm und danach Sklandu rauši, mit einer Mischung aus Kartoffelpüree und Möhrenschnitzeln gefüllte Roggenmehltörtchen.
    Nach dem Essen saß Malu eine ganze Weile nachdenklich am Tisch. Was sollte sie jetzt tun? Zum Gut fahren? Sie wüsste zu gern, wie es dort aussah. Sie würde zu gern die alte Ilme in die Arme schließen, doch etwas, das sie nicht genau benennen konnte, hielt sie davon ab. Sie kannte das Gefühl. Es war das Gleiche wie damals, als sie eine katholische Kirche betreten hatte. Malu war evangelisch, wie alle Deutschbalten. Aber in Berlin hatte sie einmal eine katholische Kirche besucht. Kaum war sie in das Gotteshaus eingetreten, hatte sie gedacht, sie täte etwas Verbotenes. Schlimmer noch, etwas Anstößiges, was sich ganz und gar nicht gehörte, etwas, das viel schlimmer war als »Schlüssellochgucken«. Eine Evangelische in einer katholischen Kirche! Jesus hätte vom Kreuz fallen müssen angesichts solch eines Frevels.
    Jetzt fühlte sie sich ähnlich. Als gehörte sie nicht hierher. Nicht nach Riga, das ihr viel lettischer vorkam als früher. Nicht nach Zehlendorf, wo die Mutter sie nie gewollt hatte.
    Malu seufzte. Mit einem Mal wusste sie, was in Constanze die ganze Zeit vorgegangen sein musste.
    Es ist das Zuhause, dachte sie. Wir haben kein richtiges Zuhause. Wir können nicht zurück, von wo wir herkommen. Und dort, wo wir sind, sind wir zwar nicht falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Nicht in Berlin, nicht in Riga.
    Sie erhob sich und machte sich auf den Weg zum Stift, in dem ihre Mutter nun wohnte. Sie lief durch die Stadt, erkannte manches wieder und

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