Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
staunte über das Neue. Doch das Gefühl, ein nicht gern gesehener Gast in der lettischen Hauptstadt zu sein, verschwand nicht einmal auf dem Markt, als sie die Pilze und Beeren kaufte, die ihr seit der Kindheit so vertraut waren.
Schließlich stand Malu vor dem Stift. Das Gebäude des ehemaligen Klosters ragte düster und wehrhaft über dem Fluss Düna empor. Das graue Gemäuer trotzte seit Jahrhunderten allen Gefahren, doch es war dadurch nicht lieblicher geworden.
Malu drückte mit beiden Händen gegen die große hölzerne Eingangstür, die sich knarrend öffnete. Der Geruch, der ihr in der Empfangshalle entgegenschlug, war überwältigend. Eine Mischung aus Urin, Schweiß, Kampfer und sauren menschlichen Ausdünstungen waberte durch die Empfangshalle. Malu blieb stehen und sah sich um. Der Putz fiel an einigen Stellen von den Wänden. Oben, an der Decke, waren feuchte Flecken zu sehen. Es war kühl im Gebäude, eine Kühle, die nicht erfrischte, sondern in die Knochen kroch und das Bettzeug klamm werden ließ.
Zwei alte Frauen saßen auf einer steinernen Bank gleich hinter dem Eingang. Die eine hielt die Augen geschlossen und summte ein Lied, das Malu nicht kannte. Die andere deutete mit einem Krückstock auf sie und lachte mit zahnlosem Mund. Ihr Kleid war mit Essensresten befleckt, der Saum hing lose herab, und in ihrem linken Schuh klaffte vorn ein großes Loch.
Malu nickte beklommen und ging weiter. Hinter einem Holztisch saß eine Ordensschwester in Tracht und Schleier und sah streng auf ein Stück Papier, das vor ihr lag.
»Bitte entschuldigen Sie«, sprach Malu die Nonne höflich an.
Der Kopf schrak hoch, und die Frau bedeckte mit beiden Händen das Schriftstück, als wäre Malu eine Spionin der evangelischen Kirche. »Ich möchte meine Mutter besuchen«, sagte Malu freundlich. »Cäcilie von Zehlendorf.«
Die Nonne betrachtete sie von oben bis unten. Dann nahm sie ihre Brille ab und legte sie auf den Tisch. »Ich wusste gar nicht, dass die Freifrau Kinder hat«, erklärte sie. Der Vorwurf in ihren Worten war nicht zu überhören.
»Ich bin … Mein Bruder, Ruppert von Zehlendorf, hat sie hergebracht.«
»So?« Die Nonne setzte ihre Brille wieder auf die Nase. »Daran kann ich mich nicht erinnern. Und ich war dabei, als die gnädige Frau bei uns eintraf. Auf einem Fuhrwerk ist sie gekommen. Sie hatte ein Kopftuch um und nur zwei Koffer dabei. Der Kutscher hat sie vom Bock heben müssen, so steif waren ihre Glieder während der langen Reise geworden. Dann hat er sie hier abgestellt und ist gegangen. Ihr Bruder hat sich hier nicht ein einziges Mal blicken lassen.«
Malu biss sich auf die Unterlippe. Sie glaubte der Frau jedes Wort und wünschte doch, dass es nicht stimmen würde.
»Und Sie sind wirklich Ihre Tochter?«
Malu nickte. »Ich kann Ihnen meinen Pass zeigen.«
»Das ist nicht nötig. Wer immer Sie auch sein mögen, Sie sind die erste Besucherin, die zur gnädigen Frau möchte.«
Sie hat es verdient, dachte Malu. Mutter hat es verdient, dass man sie vergisst. Trotzdem schnitten ihr die Worte der Nonne ins Herz.
»Ich bringe Sie zu ihr. Kommen Sie doch mit.« Die Nonne schritt voran durch die große kühle Halle.
Sie führte die Besucherin eine schmale Treppe hinauf und durch einen Gang, der so finster war, dass Malu sich fragte, wie sich die alten Leute darin zurechtfanden. In manchen Zimmern standen die Türen offen, und Malu sah hoffnungslose alte Leute, die wie steinerne Figuren in ihren Sesseln saßen, vergessen von Gott und der Welt. In einem Zimmer lag eine alte Frau auf dem Bett. Sie war nur halb angezogen, lag gekrümmt wie ein Säugling und weinte still vor sich hin.
Malu schüttelte es.
»Es geht bei uns leider nicht zu wie in einem Grandhotel«, erklärte ihr die Nonne. »Die meisten hier führen ein unwürdiges Leben ohne Liebe und Zuspruch. Als die Menschen noch Gottesfurcht hatten, war das anders. Da standen die meisten Zimmer unseres Stiftes leer, denn die Alten wurden von ihren Kindern betreut. Jetzt, nach dem Krieg, ist das anders geworden. Die Söhne sind gefallen, die Schwiegertöchter möchten sich neu verheiraten, da ist kein Platz mehr für die alten Eltern. Und wir sind nicht genug, um …«
Die Nonne blieb so plötzlich stehen, dass Malu beinahe gegen ihren Rücken gestoßen wäre. »Kennen Sie das vierte Gebot?«, fragte sie streng. »Es heißt: ›Du sollst Vater und Mutter ehren.‹«
Malu nickte. »Ich bin zwar nicht katholisch, aber auch nicht
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