Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
mehr hatte und keine Schreie brauchte. Eine Traurigkeit, die sie von nun an immer begleiten würde.
Aber da war noch etwas in ihr. Etwas, für das sie sich schämte: Erleichterung. Ja, sie fühlte sich erleichtert, dass Constanze tot war. Warum nur?
Malu dachte an David und an Viola. Und plötzlich wusste sie es: Constanze war ihre beste Freundin gewesen. Von Kindheit an. Aber sie war auch jemand gewesen, für den sie sich verantwortlich gefühlt hatte. An dieser Verbindung war immer etwas gewesen, das sie beschwerte. Etwas, das sie niemals verstehen würde, aber doch dafür verantwortlich war. Einem Nebel gleich, der allen ihren Tagen einen leichten Grauschleier verlieh. Ein Etwas, das sie für immer an Zehlendorf band, an Berlin, an ihr altes Leben, welches jetzt nicht mehr zu ihr passte.
Und mit einem Mal lächelte Malu. Sie strich zärtlich über das Kissen und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über die Stuhllehne. »Auf Wiedersehen, Constanze«, flüsterte sie. »Ich hoffe, du hast endlich Frieden gefunden.« Sie verharrte einen Augenblick, dann flüsterte sie weiter: »Und ich hoffe, dass auch ich jetzt Frieden finde.«
Sie hätte ihre Gedanken nicht in Sätze fassen können, doch in ihrem Herzen wusste sie klar und deutlich, dass sie nun frei war, frei von der Vergangenheit. Noch nicht ganz, nicht endgültig, denn da war noch Ruppert. Doch schon jetzt fühlte sie die Erleichterung.
Sie stand auf und schlenderte zum Hauptgebäude der Klinik zurück.
Neben dem Eingang stand der Arzt, rauchte eine Zigarette. »Wie geht es Ihnen?«
»Es geht mir gut«, erwiderte Malu. »Ich weiß nur nicht, ob ich mich darüber freuen oder deshalb schämen sollte.«
»Freuen Sie sich«, erwiderte der Arzt. »Mitmenschen sind eine Last. Immer. Selbst, wenn wir sie lieben. Der Tod hat stets etwas Befreiendes an sich. Aber niemand spricht darüber. Man nennt das Pietät. Hier brauchen Sie nicht pietätvoll zu sein. Freuen Sie sich einfach. Ihr Leben wird von nun an leichter sein.«
Er zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus und blickte Malu an. »Meins im Übrigen auch.« Er lächelte ein wenig, und Malu staunte, wie jung ihn dieses Lächeln machte. »Sie war zum Sterben geboren, nicht zum Leben. Vergessen Sie das nicht.«
Malu nickte. »Ich weiß«, sagte sie. »Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«
Als Isabel sie am nächsten Morgen abholte, fühlte sich Malu frisch und ausgeruht, beinahe schon heiter. Isabel aber wirkte erschöpft und blickte sie aus grauem Gesicht an.
»Es ist so furchtbar«, flüsterte sie und nahm Malu in den Arm.
»Es ist folgerichtig«, erklärte Malu. »Sie wollte mich bestrafen. Ihr Tod vor meinen Augen, das schien ihre Gerechtigkeit zu sein. Sie hat mich damit getroffen. Genau, wie sie es gewollt hatte. Aber sie hat vergessen, dass in jedem Schock Heilkraft steckt.«
»So siehst du das?«, fragte Isabel.
»Ja. So sehe ich das.«
Malu spürte Isabels Verwunderung, aber sie konnte und wollte der Freundin gegenüber keine Gefühle heucheln. Also legte sie nur eine Hand auf ihr Herz.
»Hier drinnen, da wird sie ewig leben«, sagte Malu. »Das blondzopfige Mädchen, das so gern geträumt hätte, aber niemals wusste, wovon. Das Mädchen mit den vielen Wünschen, die es nie in Worte fassen konnte. Die junge Frau mit den Sehnsüchten ohne Ziel. Constanze. Meine Constanze.«
Isabel schüttelte den Kopf, noch immer verwundert, aber nach einer Weile nickte sie. »Du wirst Zeit brauchen, diese Dinge zu verarbeiten.«
»Ja. Das werde ich«, erwiderte Malu, anstatt zu sagen, dass sie es längst getan hatte, dass sie seit Jahren schon Abschied genommen hatte von dem Mädchen mit den blonden Zöpfen.
»Jetzt lass uns zu Ruppert fahren.«
Isabel gab Gas, und gut zwei Stunden später klopften sie an die Tür der Import-Export-Gesellschaft, die sich in Wilmersdorf befand.
Ruppert riss die Augen auf, als Malu eintrat. »Du hier? Was machst du hier?«
»Ich wollte sehen, wie es dir geht. Du hast auf meine Briefe nicht geantwortet«, erwiderte Malu leicht und nahm vor seinem Schreibtisch Platz. »Ich hätte gern einen Kaffee.«
»Sofort, sofort!« Ruppert rief nach einem Mädchen und befahl ihm, Kaffee zu bringen. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, legte die Hände vor sich und sah Malu fragend an. »Du kommst nicht einfach nach Berlin, um zu sehen, wie es mir geht. Was willst du wirklich?«
Malu zuckte mit den Schultern. »Dies und das. Das Gut ist in einem schrecklichen
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