Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
ist?«
Wolfgang von Zehlendorf hatte ruhig gesprochen. Jetzt entstand Gemurmel unter seinen Leuten. Die Männer redeten auf den Obermelker ein, einige Frauen standen stumm, andere keiften.
Eine trat vor und rief: »Un watt ist mit die jnädige Frau? Darf sie uns schlagen und beschimpfen?«
Wolfgang von Zehlendorf schüttelte den Kopf. »Nein, das darf sie nicht. Aber ihr wisst alle, dass meine Frau krank ist. Wenn ihr Beschwerde über sie führen wollt, so kommt zu mir.«
»Un der junge Herr? Darf er uns befehlen, wie er lustig ist?«
»Eines Tages wird er das Jut übernehmen. Dann müsst ihr ohnehin tun, was er sagt. Ist besser, ihr jewöhnt euch jetzt schon daran.«
Wieder entstand Gemurmel. Malu, die am Fuße der Treppe das Geschehen beobachtet hatte, stieg nach oben und stellte sich neben ihren Vater. »Du musst ihnen etwas zugestehen«, riet sie ihm leise. »Sie sind aufgebracht, die Revolution hat auch sie ergriffen. Wenn sie hier nichts erreichen, werden sie noch unzufriedener.« Malu verstand zwar nichts von Politik, aber sie kannte die Leute, ihre Art und ihr Temperament. Sie hatten sich hier versammelt und würden nicht mit leeren Händen von hier weggehen wollen. Irgendetwas musste ihr Vater tun, damit die stolzen Letten ihr Gesicht behielten.
»Was schlägst du vor?«, fragte ihr Vater.
Malu zuckte mit den Schultern. »Am besten etwas, was ihnen ebenso dient wie uns.«
Wolfgang von Zehlendorf lächelte seine Tochter an. »Ich wusste gar nicht, dass du wie ein Mann denken kannst.«
Malu wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung fort. »Es gibt einiges, das du nicht von mir weißt«, erwiderte sie ruhig.
Zehlendorf trat eine Stufe nach unten und hob beschwichtigend die Hände, damit die Leute ihn hören konnten. »Im letzten Winter waren viele eurer Kinder krank. Ich werde in den nächsten Tagen Dr. Matthus zu euch schicken. Er soll eure Kinder untersuchen und ihnen, wenn nötig, Medikamente verschreiben. Ich werde das bezahlen. Und von nun an wird der Doktor einmal im Jahr kommen und sich um euch kümmern. Dazu bekommt jede Familie täglich einen Liter Milch frei, und zu Weihnachten erhält ein jeder Wolle für Socken, Schals oder Pullover. Seid ihr damit einverstanden?«
Für einen Augenblick stand die kleine Menge ratlos da. Dann tuschelten sie miteinander, schüttelten die Köpfe, nickten, zuckten mit den Schultern.
Schließlich trat der Obermelker vor: »Wir sind einverstanden.« Dann drehte er sich zu seinen Leuten um, reckte die Faust in die Höhe und rief: »Unsere Revolution hat jesiegt! Die Petersburger können noch lernen von uns.«
Sechstes Kapitel
Gut Zehlendorf (Lettland), 1905
D u musst ihn aufhängen. Gleich hier vor dem Haus. So, dass alle ihn sehen können!« Ruppert war weiß vor Wut und Hass.
»Ich wusste ja nicht, dass Pfarrer Mohrmann dir so nahesteht«, stellte Wolfgang von Zehlendorf fest.
»Ach was! Es geht nicht um den Popen. Es geht darum zu zeigen, wer hier der Herr ist. Schlimm genug, dass du dem Gesindel Zugeständnisse gemacht hast. Jetzt musst du zeigen, wer das Sagen hat. Häng ihn auf! Öffentlich. Das Gesindel soll zuschauen, damit sie gleich wissen, was denen passiert, die hier aufmucken.«
Wolfgang von Zehlendorf saß in der Bibliothek in einem Ledersessel, in der Hand ein Glas Weinbrand. Ruppert saß ihm gegenüber, die langen Beine wie ein Geck übereinandergeschlagen.
»Was sagst du dazu, Malu?«
Ruppert richtete sich auf. »Du wirst sie doch nicht ernsthaft fragen! Sie ist ein Weib. Schlimmer noch: Sie hat selbst Blut an den Händen.«
»Schweig! Malu ist meine Tochter, so wie du mein Sohn bist. Es steht dir nicht zu, über sie zu urteilen. Und im Gegensatz zu dir schätze ich ihren Rat. Also?«
»Hängen?«, entgegnete Malu. »Einen Menschen töten? Ich weiß, die Russen halten es so. Sie haben Menschen im Überfluss, ihr Wert ist nur gering. Aber wir sind doch anders als sie. Reicht es nicht, ihn einem Gericht auszuliefern?«
»Pah!« Ruppert warf sich gegen die Sessellehne. »Du hast ja keine Ahnung. Es gibt kein Recht und Gesetz mehr. Überall werden die kleinen Leute frech und anmaßend. In St. Petersburg musste der Zar auf sie schießen lassen. Auch in Riga gab es Tote. Wir sind im Krieg! Da herrschen andere Regeln.« Er wandte sich an seinen Vater. »Du musst ihn aufhängen; du hast gar keine andere Wahl, wenn du nicht als Schlappschwanz gelten willst. Schließlich hat er einen von uns schwer verletzt. Auch wenn es nur der Pope war.
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