Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
bleiben. So gut es ihnen auch gehen mag, wir sind bessergestellt als sie. Keine von den deutschbaltischen Frauen arbeitet. Unsere Kinder bekommen die beste Schulbildung, die teuersten Ärzte. Der Reichtum ist es, der sie lockt. Sie können nicht wissen, wie teuer wir für diesen Reichtum bezahlen.« Seine Stimme klang erschöpft.
»Aber was haben wir damit zu tun?«, wiederholte Malu. Ihr Gesicht hatte sich zusammengezogen, die Augen waren zu Schlitzen geworden, ihr Mund war zu einem Strich zusammengepresst. Sie hatte plötzlich Angst, wusste jedoch nicht zu sagen, woher diese Angst rührte.
»Ein Gut in der Nähe von Mitau, keine zwölf Werst von hier«, fuhr ihr Vater mit gepresster Stimme fort. »Es hat gebrannt dort. Das Gesinde hat das Herrenhaus in Flammen aufgehen lassen. Die Besitzer sind nur mit dem nackten Leben davongekommen. Und dabei können sie noch von Glück sagen. Andere Gutsherren, auch hier in der Gegend, wurden hingemordet.«
Malu riss die Augen auf. »Das glaube ich nicht. Die anderen, ja. Sie haben ihre Leute schlecht behandelt, haben sie vielleicht sogar geschlagen. Aber doch nicht wir, Vater. Nicht wir.«
»Du hast dich nie sonderlich für Politik interessiert, Malu, und die Politik ist auch kein Thema für junge Mädchen. Ich habe immer versucht, alles Unliebsame von dir und deiner Mutter fernzuhalten. Es grummelt schon seit einiger Zeit im Lande, und jetzt hat der Unfrieden auch das Baltikum erreicht. Niemand weiß, was in den nächsten Tagen und Wochen geschehen wird, aber wir müssen auf alles vorbereitet sein.«
Malu biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Meinst du, uns droht Gefahr? Gefahr von unseren eigenen Leuten?«
Wolfgang von Zehlendorf senkte den Blick und schlug mit der Hand leicht auf einen Stapel Papier. »Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich Mutter heute Morgen nach Jūrmala geschickt.«
»Ah. Das ist gut«, erwiderte Malu. Sie wusste genau, dass sich der Zorn der Zehlendorfer Bediensteten, wenn es einen solchen denn gab, zuerst gegen ihre Mutter richten würde. Cäcilie von Zehlendorf hatte nicht immer die passenden Worte und selten nur den freundlich-bestimmten richtigen Ton finden können. Sie hatte Marenka geschlagen, und sicher nicht nur sie, hatte über Ilme gespottet und alle anderen spüren lassen, dass sie zwar Menschen waren, aber eben nur Menschen zweiter Klasse.
»Auf dem Antonien-Gut haben die Mägde die Gräfin gezwungen, ihnen heiße Schokolade zu kochen. Verkehrte Welt haben sie gespielt. Einen ganzen Tag lang lümmelten die Mägde im Salon und zwangen die Gräfin, sie zu bedienen«, erklärte Wolfgang von Zehlendorf.
Malu kicherte, als sie das hörte, doch dieses leise Lachen diente eher dem Zweck, die eigene Angst zu verdrängen. »Ich sehe sie vor mir, die Gräfin Antonien, wie sie mit einem Gesicht von der Farbe gekochten Schinkens die schweren Tabletts mit der Schokolade serviert. Ich wette, sie hat dabei geschnauft wie eine Dampflok. Womöglich ist ihr nun der ganze Hochmut abhandengekommen.«
Malu stand auf, trat ans Fenster und sah auf das Rondell und die Auffahrt. Ein Stubenmädchen mit einer vollen Schürze tauchte auf, schaute sich nach rechts und links um und rannte dann hinüber zum Gesindedorf. Unter dem Arm klemmte eine riesige Schinkenseite.
»Sie bestehlen uns«, teilte Malu ihrem Vater mit. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass sich die Bediensteten eines Tages gegen ihre Herrschaft stellen würden. Aber wie ihr Vater schon sagte: Sie hatte keine Ahnung von Politik. Auch wusste sie im Grunde genommen nicht, was die Leute auf dem Gut beschäftigte, was sie für Wünsche und Träume hatten und welche Sehnsüchte sie hegten.
»Ja, das tun sie. Wir würden es wohl nicht anders halten. Sieh darüber hinweg. Wir haben ohnehin mehr, als wir brauchen.«
Malu drehte sich um. »Meinst du wirklich, uns geschieht etwas?«
Der Vater hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Kind. Wir wollen beten, dass nichts passiert.«
Wolfgang trat neben seine Tochter ans Fenster, und beide sahen mit besorgter Miene hinüber zum Gesindedorf. Nach einer Weile fragte Malu: »Hast du Ruppert auch nach Jūrmala geschickt?«
Zehlendorf schüttelte den Kopf. »Zum Gesindehof habe ich ihn geschickt. Er soll sich in jedem Haus erkundigen, ob etwas fehlt.«
Malu lachte auf. »Das hast du gemacht?«
Wolfgang von Zehlendorf lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. »Ja.«
»Sie werden ihn verprügeln.« Malus Stimme war ohne Mitleid.
»Das hoffe
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